Helmut Seel / Vorwärts ins zwanzigste Jahrhundert: Diskussion über die Aufnahmeprüfung in die AHS !

von Helmut Seel

Ist die "Aufnahmsprüfungs Nessie" wieder aus ihrem schottischen "Loch Ness" bloß zur Belebung des bildungspolitischen Sommerlochs in der Presse aufgetaucht? Oder: Ist das Relikt einer ständisch gegliederten Gesellschaft letztmalig realisiert im autoritären Ständestaat (1934 193 8) in den Köpfen diverser ÖVP Politiker tatsächlich noch immer nicht vergessen?
Man muss bedauerlicherweise mit dem Zweiten rechnen.
Dazu kann man aus der Geschichte lernen wenn man will. Die in der I. Republik ohnehin nur mangelhaft gelungene Demokratisierung des Schulsystems (Einführung der Hauptschule als Quasi Gesamtschule mit zwei Klassenzügen neben den Unterstufen der traditionellen Mittelschulen, wenngleich gemildert durch akkordierte Lehrpläne und leistungsbezogene Durchlässigkeit, statt der Einführung einer Allgemeinen Mittelschule und Beibehaltung der Aufnahmeprüfung in die Mittelschule und des Schulgelds in der Mittelschule) wurde 1934 sofort rückgängig gemacht: Abschaffung der akkordierten Lehrpläne und damit der Durchlässigkeit zwischen Mittelschule und Hauptschule, Abschaffung des zweiten Klassenzugs und Wiedereinführung der Volksschul Oberstufe. Jedem Stand seine eigene Schule: die Mittelschule für die elitäre Oberschicht, die Hauptschule als "Bürgerschule" für den Mittelstand, die Volksschul Oberstufe für das "niedere Volk" der Arbeiter und Bauern.

Das letztere wurde in der II. Republik 1962 durch die Schulgesetzgebung der großen Koalition von ÖVP (als Gesinnungsnachfolger der Christlich Sozialen) und SPÖ wieder rückgängig gemacht. Auch das Schulgeld für die Mittelschule (nun höhere Schule) wurde abgeschafft. Um hier ein Revival auszuschließen, hat die SPÖ wohl zu Recht in der Verfassungsreform 2005 auf die verfassungsmäßige Absicherung der Schulgeldfreiheit bestanden.

Anders erging es der Aufnahmeprüfung in die AHS. Sie wurde erst 1971 zunächst sistiert und 1982 endgültig abgeschafft. Dies geschah wohl unter dem Druck der gewichtigen Kritik der OECD an der Struktur des österreichischen Schulsystems im Jahr 1965: Bedrohung des wirtschaftlichen Fortschritts auf Grund des Maturantendefizits, dieses wieder verursacht durch eine fehlende Gesamtschulstruktur der Mittelstufe des Systems zur besseren Erfassung und Förderung aller Begabungsreserven. Für die ÖVP bestand noch ein anderer, spezifischerer Leidensdruck: Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit mit der SPÖ zur Abschaffung der 1962 eingeführten neunten Klasse der AHS (in Orientierung am deutschen Gymnasium) als Folge des von der ÖVP unterstützten Schulvolksbegehrens 1969.

Die Abschaffung der Aufnahmeprüftmg in die AHS, die durch vielfältige einschlägige Forschungsergebnisse gestützt war und noch immer ist, hat zweifellos zur Erweiterung des Eintritts in die AHS geführt. Da dieser Eintritt neben entsprechenden Schulleistungen in der Volksschule die Entscheidung der Eltern erforderte (und noch erfordert), führte die Abschaffung der Aufnahmeprüfung zu einem vermehrten Zugang der Kinder aus bildungsbewussten Mittelschichten im städtischen Bereich, wo die AHS Langform zur Verfügung stand. Die Beeinträchtigung der Bildungschancen der Kinder aus sozial oder regional benachteiligten Bevölkerungsgruppen blieb jedoch bis heute erhalten. Hier könnte nur die Einführung einer Allgemeinen Mittelschule (als Gesamtschule) an Stelle der Schultypengliederung Abhilfe schaffen. Auch dies ist nichts Neues angesichts der Einführung der Gesamtschule als Mittelstufenschule in den meisten europäischen Staaten und den
Forschungsergebnissen, welche diese begründen und stützen, in Ergänzung zu den demokratiepolitischen Absichten.

Was kann man aus der aktuellen Aufnahmeprüfungs Debatte lernen:
Sie ist zweifellos ein Ablenkungsmanöver angesichts einer erneuten und ernsthaften Diskussion über die Gesamtschule fUr die Zehn bis Vierzehnjährigen in Österreich. Das Ziel der ÖVP: Zurück in die Zeit vor 1970 und Wiederholung einer wissenschaftlich längst entschiedenen Diskussion über eine verfrühten Selektion bei den Zehnjährigen und daraus folgend eine neuerliche Schulversuchsphase. Der Zeitgewinn im Hinblick auf eine fällige bildungspolitische Grundsatzentscheidung wäre beträchtlich.
Sie ist absurd im Hinblick auf die beabsichtigten Folgen: Reduzierung der Schülerzahlen in der AHS Unterstufe. Diese hat zweifellos bereits Gesamtschulcharakter im städtischen Bereich. Diese Entwicklung wurde aber von den AHS Lehrern und ihrer ÖVP dominierten Gewerkschaft goutiert. Gegen die Gesamtschule wettern, mit großzügiger Schüleraufnahme wegen des höheren Prestiges aber zu dieser expandieren, war die Arbeitsplatz sichernde Standespolitik der AHS Lehrer. Problematische Schülerinnen und Schüler können ja in der vierten Klasse noch rechtzeitig in die Hauptschule abgeschoben werden. Dadurch wird eine Konsequenz für die Reform der Lehrerausbildung erkennbar: Eine Schultypenintegration in der Sekundarstufe I kann nur gelingen, wenn die Hauptschullehrer gleichwertig zu den AHS Lehrern ausgebildet werden (Hochschulstudium mit Magisterabschluss). Mit der Einführung der derzeit noch statusmäßig defizitären Pädagogischen Hochschulen und der dort vorgesehenen Hauptschullehrerausbildung wird dieses Ziel jedoch deutlich verfehlt.
Die Debatte sollte den Gesamtschulbefürwortern trotzdem zu denken geben. Die Begründung mit pädagogischen und psychologischen Forschungsergebnissen, mit der demokratie politischen Intention zur Verbesserung der Bildungschancen benachteiligter Gruppen und der wirtschaftspolitischen Perspektive der Erfassung der Begabungsreserven darf den Leistungsaspekt nicht vergessen. In der Diskussion über eine neue Schulorganisation gibt es bisher eine einzige fragwürdige Konkretisierung: keine Differenzierung durch Leistungsgruppen. Diese Positionierung erscheint unverständlich, wenn man in der Allgemeinen Mittelschule den Selektionsprozess, den das Schulsystem leisten muss, besser (pädagogisch und didaktisch flexibler und reversibler) gestalten möchte. Und zwar auch zur pädagogischen Entlastung der Grundschule (Volksschule), die ihre Aufgabe im Bildungssystem (Herstellung einer allgemeinen Grundbildung für eine infolge der Schulpflichtregelungen altersmäßig gestreute und außerschulisch unterschiedlich geförderte Schülerschaft) nur ohne Selektionsdruck erfüllen kann. Am Ende der Sekundarstufe I müssen die Begabungs-und Leistungsprofile der Schülerinnen und Schüler deutlich sein, um die Entscheidungen über die Bildungslaufbahnen im Oberstufenbereich zu begründen. Die Einführung eines über die vier Schulstufen einer allgemeinen Mittelschule sich entwickelndes System der Leistungsdifferenzierung auch mit schulklassenüber-greifenden Gruppen mit unterschiedlichen Anforderungsniveaus würde als didaktisch begründbares Instrument zur schrittweisen Herstellung der Kongruenz von Anforderungen und Befähigungen Bedeutung haben. Man sollte sie daher nicht vorschnell und unbegründet verteufeln. Diese Zielstellung der Gestaltung des Selektionsprozesses im Bereich der gemeinsamen Schule für alle Zehn bis Vierzehnjährigen kann der Forderung nach einer frühen (verfrühten!) Schullaufbahnentscheidung durch eine fragwürdige punktuelle Aufnahmeprüfung in die AHS den Wind aus den Segeln nehmen!