Ortwin Wingert / Zum Dilemma der Bildungsstandard Diskussion


Spätestens seit dem Regierungspro¬gramm der gegenwärtigen Koalition und dem Entwurf der Zukunftskommission (Haider 2003) hat der Begriff „Standard" nun auch Eingang in die Diskussion der ös¬terreichischen Schulpolitik gefunden. Dem Vernehmen nach werden „Bildungs¬standards" in einer Reform des Schulunterrichtsgesetz (SchUG) ver¬ankert. Eine Begutachtungsvorlage erwartet man demnächst. Dazu fol¬gen einige grundsätzliche Bemerkungen:

1. Bildungsstandards oder Leistungsstandards, Input- oder Out¬putorientierung?

Man kann verschiedene Typen von Standards für die Schule danach un¬terscheiden, für welche Merkmale des pädagogischen Prozesses sie formuliert werden (vgl. Altrichter - Schratz: Bildungsstan¬dards und die Weiterentwicklung von Unterricht und Schule. In: Erziehung und Unter¬richt, Heft 7-8, 2004, Bundesverlag Wien, S. 630 - 645). Bisher wurden die österrei¬chischen Schulen durch Input-Vorga¬ben gesteuert, durch Richtlinien und Lehrpläne. Nun sollen Output-Vorga¬ben in Form von verbindlichen Standards und den dazugehörigen Tests zu neuen Regula¬tiven werden.

Bildungsstandards sollen in Österreich in Hinkunft als ein Mittel der Beseitigung von „Ungerechtigkeiten in der Leistungsbeurteilung" heran¬gezogen werden. So ist die ausdrückliche Absicht, „die Vergabe von Berechtigungen bei Übertrittsstellen des Schulwesens an ob¬jektive Leistungsstandards zu koppeln" (Haider-Eder-Specht-Spiel: Das Reform¬konzept der Zukunftskommissi¬on, BMBWK: Wien 2003, S. 36).

Da ist nun die Katze aus dem Sack gelassen! Wider besseren Wissens, denn es wen¬det sich sogar der Sprecher der deut¬schen Expertenkommis¬sion Klieme (Wundermittel oder Teufelszeug? Na¬tionale Bildungs¬standards. In: GEW, Frankfurt 2003, S. 18) ausdrücklich und eindringlich gegen die Testung an den Schnittstellen des Bildungswesens. Die Test¬ergebnisse am Ende eines Schultyps (high stakes standards) können ja für Förder¬maßnahmen gar nicht mehr herangezogen werden.

Vorwärts in die Vergangenheit? Sehr leicht wird die alte „Lern- und Drill¬schule" wieder eröffnet, offener Unter¬richt, Diagnose und Therapie¬modelle sind out! Die neue empirische Wende der Output-Orientierung könnte zu fol¬gender schulpraktischer Reaktion füh¬ren: teaching and lear¬ning to the tests. Manche Lehrer werden sich willfährig auf den ausge¬tretenen Trampelfaden der längst überholt geglaubten konservati¬ven Pädagogik begeben: Es wird un¬terrichtet und gelernt, was geprüft wird!. Darüber hinaus ist die Gefahr durch die Betonung auf die „Haupt¬fächer" Mathematik, Deutsch und Fremdsprache nicht zu übersehen, dass es zu einer nicht wieder gutzumachenden Abwertung für die „stan¬dardlosen" Fächer zu Nebenfächern kommt.

2. Wir sollten von ausländischen Erfahrungen (und deren Fehlern) lernen!

Im angelsächsischen Modell sind Bil¬dungsstandards marktorientiert und för¬dern die Konkurrenz zwischen den Schulen (ranking). Der verringerte „Markterfolg" führt zu Sanktionen am Schulstandort (Kürzung der Ressour¬cen, Kündigung von Lehrern).
In den USA beispielsweise ist das „tea¬ching to the test" weit verbreitet:
• Drillen und Multiple-Choice-Fragen
• Florieren von Nachhilfeinstituten, die Test-Trainings anbieten; dies ver¬schärft die soziale Schere nochmals
• Bildung von Eliteschulen und Un¬derdog-Schulen
usw.
Wir sind von amerikani¬schen Verhältnissen weit entfernt, aber wir sollten aus Fehlentwick¬lungen die richtigen Konsequenzen ziehen und falsche Wege vermei¬den.

Entsprechend dem skandinavischen Förderungsmodell sollten die in Österreich geplanten Bildungs¬standards zu Diagnose-Therapie-Ma߬nahmen im Sinne eines zielerrei¬chenden Lernens formuliert werden. Daher dürfte man Tests nicht an den Übertrittsstellen des Schulsystems einsetzen, sondern sie müssten früher und begleitend von Lern¬prozessen überlegt werden, um ein Potenzial für Diagnose und Förder¬maßnahmen zu haben. Lernfortschritte (positiv gefasste Rück¬meldungen in Form von „can-do-Check¬listen") sind für jeden Schüler zu dokumen¬tieren. Der Aufbau einer sol¬chen Liste entspräche den jeweiligen Lehr¬planzie¬len, es erfolgte jedoch keine Benotung der nicht erreichten Lern¬defizite. Die „leeren" Felder des Profils wären lediglich die Grundlage für eine zielerreichende Förderung im Sinne eines „adaptiven Unterrichts".

Bildungsstandards könnten große Ent¬wicklungsmöglichkeiten haben, wenn sie nicht lediglich zu simplen Leistungs¬tests degenerieren und diese noch dazu an den Übertrittsstellen der Schultypen zur Selektion herangezogen werden. Der Nutzen von Evaluationen soll nicht bestritten werden, aber es muss auch - vor dem Hintergrund des österrei¬chischen Abschneidens bei PISA - deut¬lich gesagt werden, dass jede Erhebung nur genau definierte Leistungsbereiche messen und überprüfen kann. Auf Grund unseres erreichten pädagogi¬schen Standards im Bereich der (nicht exakt messbaren) erzieherischen Arbeit in den Schulen würde sich die Einfüh¬rung von Leistungsstandards als Rückschritt erweisen.

Es darf aber keinesfalls dazu kommen, dass Standards („verbindliche Min¬deststandards") mit Sanktionen verbunden werden. Dazu sei ein Zerrbild aus England angeführt: Wenn eine englische Schule wiederholt die natio¬nalen Mindeststandards nicht erbringt, kann sie öffentlich für „bankrott" erklärt werden. Dann bekommt sie einen (hoch bezahlten) neuen Leiter, der diese völlig umkrempeln und entscheiden kann, wer vom bisherigen Lehrkörper an der Schu¬le verbleiben darf und wer nicht!