Die Österreicher zeigen nach neuesten Umfragen des GFK-Instituts deutlich mehr Interesse an Zeitgeschichte und auch eine kritischere Einstellung zu den Umbrüchen im März 1938 als noch vor 20 Jahren.
Einen zusätzlichen Schub erhielten die Gedenkaktivitäten durch die völlig inakzeptable Gedenkrede des 95-jährigen Kaisersohnes Otto Habsburg im Reichsratssaal des Parlaments. Gegenüber den unverzeihlichen, ja geradezu peinlichen Ausführungen dieses Gedenkredners, dessen Gesellschafts- und Geschichtsbild schon vorher hinreichend bekannt war, kann eine gewisse Altersnachsicht geltend gemacht werden. Mehr betroffen macht jedoch der heftige Beifall aus den Reihen der ÖVP-Angeordneten. Damit ist die Auseinandersetzung über die als überwunden erachtete „Opfertheorie" wieder angefacht worden. Die ersten Opfer in den Märztagen 1938 waren die Österreicher jüdischer Herkunft, die nicht von der einrückenden deutschen Wehrmacht, sondern von fanatisierten Österreichern misshandelt und gedemütigt wurden. Karl Zuckmayer, der aus Wien floh, hielt dazu fest: „Es war ein Hexensabbat des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlichen Würde." Ein Teil der jüdischen Österreicher konnte das Leben durch Flucht retten, ca. 60 000 wurden ermordet.
Vor einer jubelnden Menge, nach Otto Habsburg waren es 60.000, nach anderen Schätzungen 250.000, „meldete" Hitler am 15. März 1938 „den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich". Für Österreich begann damit der Weg in die Katastrophe, in der auch Täter vielfach zu (Kriegs)Opfern wurden. Neben dem nationalen Trauma „Heldenplatz" gibt es als weitere historische Last die Volksabstimmung vom 10 April 1938 mit ihrem 99- Prozentergebnis, die jedoch wegen den Umständen ihrer Durchführung kaum als demokratische Legitimation des „Anschlusses" gewertet werden kann.
Aufgeflammt ist auch eine heftige Kontroverse über die Ausschaltung des Parlaments 1933, weil in einigen Geschichtsbüchern immer noch von der „Selbstausschaltung des Parlaments" die Rede ist. Faktum ist jedoch: Das Parlament wurde mit Stacheldraht abgeriegelt und die Parlamentarier mit Gewalt am Betreten des Gebäudes gehindert. Während zwischen den beiden großen politischen Parteien über die Zeit zwischen 1938 und 1945 weitgehende Übereinstimmung herrscht, gibt es über die Bewertung der austrofaschistischen Ära zwischen 1934 und 1938, über die kläglich gescheiterte Politik von Dollfuß und Schuschnig, immer noch heftige Kontroversen.
Im Folgenden soll die prekäre Situation der Pflichtschullehrer in Vorarlberg vor 1938 knapp skizziert werden. Vor diesem historischen Hintergrund werden dann die Schulpolitik der neuen Machthaber und das Verhalten der Lehrer näher untersucht.
Die Lehrer unter dem Kruckenkreuz
Als Landeshauptmann von Vorarlberg und Präsident des Landesschulrates war Dr. Otto Ender verantwortlich für eine Reihe von Erlässen, die den politischen Druck auf die Lehrer erheblich verschärften. So wurden die Lehrer im Erlass vom 20. Februar 1934 aufgefordert, der „Vaterländischen Front" (der austrofaschistischen Einheitsorganisation) beizutreten. Am 11. Juni 1934 wurde der Lehrerschaft das "Tragen des Vaterländischen Abzeichens in und außer Dienst" zur Pflicht gemacht. In einer Broschüre von Dr. Ender, dem Verfasser der „ständestaatlichen" Verfassung vom Mai 1934, hieß es: Die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sei zwar vom Religionsbekenntnis unabhängig, die Verfassung sehe aber eine Ausnahme vor: "Für den Schuldienst kann durch Gesetz von diesem Grundsatz abgewichen werden." (Ender 1935, S. 3) Er weist dann auf besondere Ausnahmeregelungen in der neuen Verfassung hin, die insbesondere die Lehrerschaft betrafen, „nämlich die Verpflichtung zur Anwesenheit bei kirchlichen Veranstaltungen". Lehrer hatten demnach anwesend zu sein bei der täglichen Schulmesse vor Beginn des Unterrichts, bei Vor- und Nachmittagsgottesdiensten an Sonn- und Feiertagen, beim 5- bzw. 10-maligen Empfang der hl. Sakramente der Buße und des Altars sowie bei kirchlichen Prozessionen, Bittgängen, Leichenbegräbnissen und Totengottesdiensten (Stadtarchiv Feldkirch, ASA-Ordner 1933).
In einem Runderlass vom 4. September 1934 hieß es: „Der Landesschulrat betrachtet es als eine der ersten und wichtigsten Zeitaufgaben der Schule, eine für das österreichische Vaterland begeisterte Schuljugend heranzubilden. Es darf kein Schultag vergehen, ohne dass nicht in jeder Klasse die Flamme vaterländischer Begeisterung entzündet worden wäre."
Lehrer wurden verpflichtet, im Dienstort zu wohnen und auf ein sittlich-religiöses Betragen der Schulkinder innerhalb und außerhalb der Schule hinzuwirken. Durch das Budgetsanierungsgesetz vom 3. Oktober 1931 wurden die Gehälter aller Beamten in Vorarlberg und damit auch die der Lehrer um vier bis sechs Prozent gekürzt. Im Jahre 1933 ging die Landesregierung noch einen Schritt weiter und kürzte die Lehrergehälter durch das Gesetz vom 13. Dezember mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 1934 einschneidend. Lehrerinnen und Junglehrer mussten Einbußen bis zu 20 % hinnehmen. Verschont blieben nur Lehrer mit vier und mehr Kindern. Da von dieser Kürzung nur die Lehrer betroffen waren und die anderen Landesbeamten ausgenommen blieben, war die Verbitterung bei den Lehrern groß. Ihre Begeisterung für den neuen „ Ständestaat" dürfte damit einen argen Dämpfer erhalten haben.
Zusätzlich mussten sie eine erhebliche Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen hinnehmen. In einem Runderlass vom 18. April 1934 ordnete der Landesschulrat an:
„Mit Beginn des kommenden Schuljahres sind folgende Einsparungsmaßnahmen durchzuführen:
Bestehende Parallelklassen, durch deren Zusammenlegung die Schülerzahl an Hauptschulen 60, an den Volksschulen 65 nicht überschritten wird, sind zusammenzulegen; neue Parallelklassen dürfen nur errichtet werden, wenn diese Zahlen überschritten werden."
Diese Maßnahmen wurden zwar ökonomisch begründet, sie dürften jedoch auch beabsichtigt haben, die Lehrer einzuschüchtern. In der Praxis wurden die Vorgaben noch deutlich überschritten. So musste beispielsweise der Junglehrer Armin Köb 1934 eine einklassige Volksschule in Laterns mit 72 Schülern übernehmen .Infolge der rigorosen Sparpolitik befand sich das Schulwesen in Vorarlberg in einem desolaten Zustand.
Hier drängt sich die Frage auf, warum sich die Lehrer und ihre Standesvertretung gegen diese einschneidenden Maßnahmen nicht wehrten. Es gab den nahezu allmächtigen Katholischen Lehrerverein, der großen Einfluss auf die beruflichen Karrieren der Lehrer hatte. In den Archiven sind keine Belege dafür zu finden, dass der Lehrerverein versucht hätte, diese Maßnahmen abzuwenden. In der Festschrift zum 60-jährigen Bestehen des Katholischen Lehrervereins aus dem Jahre 1956 werden die Gehaltkürzungen 1934 zwar bedauert, aber als „notwendig" gerechtfertigt.
Infolge dieser Maßnahmen vergrößerte sich auch die Lehrerarbeitslosigkeit, und für Junglehrer verschlechterten sich die Chancen auf eine Anstellung erheblich. Die Verpflichtung zur Kirchenaufsicht an Sonntagen, besonders in der Vesper am Sonntagnachmittag, wurde auch von religiösen Lehrern als Schikane empfunden. Sie durften sich auch nicht vertreten lassen. Mit solchen Maßnahmen konnte bei den Lehrern höchstens ein ängstlicher Konformismus, aber wohl kaum eine Identifikation mit dem austrofaschistischen System erreicht werden. Man könnte es auch drastischer formulieren: Den Lehrern wurde buchstäblich das Rückgrat gebrochen.
So überrascht es nicht, dass in der Zeit vor dem März 1938 die Verbitterung in der Lehrerschaft gewachsen war. Besonders für Junglehrer eröffnete sich nach Beendigung ihrer Ausbildung eine Zukunftsperspektive von trister Hoffnungslosigkeit.
Schule und Lehrer in den Märztagen 1938
Nach der Besetzung Österreichs durch die Deutsche Wehrmacht im März 1938 zeigte sich das wahre Ausmaß, in dem die verschiedenen staatlichen Institutionen bereits von illegalen Nazis unterwandert waren. Auch die Schulen in Vorarlberg waren da keine Ausnahme. Schüler erlebten, dass Lehrer plötzlich in SA-Uniform oder mit dem deutlich sichtbaren Parteiabzeichen der NSDAP zum Unterricht erschienen. Im Lehrerseminar ist Tisis wurde das Dollfußdenkmal, das Zöglinge unter der Leitung von Bruder Gregor 1936 errichtet hatten, zerstört. Wie der Jubiläumsschrift anlässlich des 50jährigen Bestehens zu entnehmen ist, war der Jubel und die Begeisterung unter den Zöglingen und vereinzelt auch unter dem Lehrkörper beträchtlich. Drei Zöglinge waren als Mitglieder der SA bei der Reifeprüfung im Sommertermin 1938 von der schriftlichen Klausurarbeit in Deutsch befreit.
Bereits am 15. März hatte der „Illegale" Dr. Oskar Baldauf die Stelle des Landesschulinspektors übernommen. Die meisten Schulleiter und Direktoren wurden ihrer Funktion enthoben und durch Lehrer ersetzt, die das Vertrauen der neuen Machthaber besaßen. Die Einsetzung vieler ehemaliger „Illegaler" als Schulleiter lief unter dem Titel „Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht in der Systemzeit" (LSR, Zahl 616/14 vom 10. Mai 1938).
Am 26, März 1938 wurden alle Lehrer des Landes zum „Landes-Lehrer-Appell" nach Dornbirn in die Mohrenhalle befohlen und durch den neuen Landeshauptmann Toni Plankensteiner „auf den Führer" vereidigt. Damit wurden die Lehrer deutsche Reichsbeamte, was ihr Einkommen deutlich erhöhte.
Ein Großteil der Direktoren durfte als Lehrer, meist an einer anderen Schule, weiter unterrichten. Wer Führungsfunktionen in der Vaterländischen Front oder in der Heimwehr bekleidet hatte, wurde vom Dienst suspendiert oder entlassen. So gab es im Schuljahr 1938/39 eine große Versetzungswelle.
Der neue Landesschulinspektor ging mit besonderem Eifer gegen die konfessionellen Schulen vor, denen das Öffentlichkeitsrecht entzogen wurde. Mit dem Erlass vom 5. August 1938 wurden alle geistlichen Lehrkräfte aus dem Schuldienst entfernt. Der Religionsunterricht wurde massiv behindert. Das katholische Lehrerseminar in Tisis wurde verstaatlicht. Neuer Direktor wurde der aus dem Rheinland stammende Franz Kunkel, der vorher an der Stella Matutina unterrichtet hatte.
Organisierten Widerstand gab es nicht. Wenn es individuellen Widerstand gab, war er meist religiös motiviert. Beim Kreisappell am 25. Mai in Bregenz, bei dem eine Rede gegen die Kirche gehalten wurde, verließen sieben Lehrerinnen und zwei Lehrer aus Protest den Saal. Die Dissidenten erhielten ein Entlassungsschreiben, wurden jedoch bald wieder eingestellt und nach Tirol versetzt. Die Lehrerin Dora Lutz, die als Rädelsführerin galt, wurde mit sechs anderen in das gefährliche Partisanengebiet in Südkärnten versetzt.
Das Werben um Zustimmung
Die NSDAP war in Vorarlberg bei ihrem Bemühen, die Zustimmung und das Vertrauen der Lehrer zu gewinnen, überaus erfolgreich. Die Beschäftigungssituation und das Einkommen verbesserten sich nach 1938 geradezu dramatisch. Durch die Entlassung aller Schulschwestern waren viele Stellen frei geworden. Wer im Land keine Stelle fand, konnte im „Altreich" unterrichten, wo Lehrermangel herrschte. Neue Lehrmittel wie der Schulfilm fanden große Beachtung und vermittelten das Gefühl, dass nach der Stagnation und den Schikanen im „Ständestaat" jetzt „etwas weitergehe". Es herrschte, wenigstens kurzfristig, so etwas wie Aufbruchstimmung. Auch die Abschaffung des Zwanges zur Kirchenaufsicht wurde vielfach als Befreiung empfunden.
Viele Lehrer erlagen den Verlockungen und Drohungen der neuen Machthaber und traten, aus welchen Gründen auch immer, der NSDAP bei. Mit einem Mitgliederanteil von 61 Prozent bei den Pflichtschullehrern und von 48 Prozent bei den Gymnasiallehrern lag Vorarlberg weit über dem österreichischen Durchschnitt, der bei den Pflichtschullehrern 27 % und bei den Gymnasiallehrern 12 % betrug. Es soll daraus nicht voreilig der Schluss gezogen werden, die Lehrer in Vorarlberg seien besonders opportunistisch oder stärker anfällig für die NS-Ideologie gewesen als etwa Lehrer in Tirol oder in anderen Bundesländern. In Vorarlberg hatten die Lehrer vor 1938 deutlich niedrigere Gehälter und eine höhere Lehrverpflichtung als ihre Kollegen in den anderen Bundesländern gehabt - das und der ideologische Druck haben sicherlich nicht dazu beigetragen, die Lehrerschaft zu einem Bollwerk gegen den Nationalsozialismus zu machen.
Auch nach 70 Jahren sind viele Wunden nicht völlig verheilt. Österreich war zweifellos als Staat ein Opfer, soweit ein Staat, der auf Verteidigung in der Stunde der Not völlig verzichtet, ein Opfer sein kann. Viele Österreicher waren schlimme Täter. Das Verhalten der Republik Österreich nach 1945 den Vertriebenen gegenüber war beschämend. Sie wurden überaus schäbig behandelt, ihre Rückkehr wurde behindert und die Rückgabe des geraubten Besitzes musste meist mühsam vor Gericht erstritten werden. Noch immer sind Restitutionsfragen offen.
Das Interesse an zeitgeschichtlichen Fragen nimmt zu. Neueren Umfragen zufolge glauben heute schon zwei Drittel der Österreicher, der „Anschluss" wäre vermeidbar gewesen, wenn alle politischen Kräfte vereint gegen Hitler gekämpft hätten. Jubiläen und Gedenkfeiern sind hochpolitsch und identitätsstiftend. Es geht dabei auch immer um die Deutungshoheit über historische Ereignisse.