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Elfriede Schmidinger / Reformstau bei der Leistungsbeurteilung

von Elfriede Schmidinger
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Im Bildungsbereich werden den KoalitionsverhandlerInnen die Themen nicht ausgehen, wenn das Paket helfen soll, das österreichische Bildungssystem zu den Besten im internationalen Vergleich heranzuführen. Helmut Seel hat die vielen Bildungsbaustellen, die Reformmaßnahmen benötigen, bereits an diesem Ort skizziert. In diesem neuen Koalitionspaket sollte der Leistungsbeurteilung eine Schlüsselstellung zukommen.

Die Leistungsbeurteilung ist im SchUG und in der Verordnung zur Leistungsbeurteilung des BMUKK für alle Schulen mehr oder weniger gleich geregelt. Die Betonung des summativen Aspekts in diesen Regelungen behindert leider das Lernen mehr, als es dies fördert. Die Ziffernnoten sind die Grundlage bzw. das Instrument zur Vergabe von Berechtigungen und damit auch die Grundlage für alle Selektionsmaßnahmen, deren Probleme immer deutlicher gesehen werden:

 Verantwortungsübername der Lehrerschaft für die Zielerreichung
Das SchUG enthält eine Unterrichts- und Erziehungspflicht der LehrerInnen. Durch ihren Unterricht sollen sie „jeden Schüler nach Möglichkeit zu seinen besten Leistungen führen" (§ 17 (1) SchUG). Es findet sich aber keine Verpflichtung, allen SchülerInnen die Lehrplanziele erreichen zu lassen. Das ist auch inkompatibel zu den SchUG-Bestimmungen für eine negative Beurteilung (nicht genügend) und für das Wiederholen einer Schulstufe (§ 18, 22, 25). Die Verbindung einer nicht genügenden Beurteilung im Jahreszeugnis mit der Selektionsfolge der Wiederholung dieser Schulstufe begünstigt bei der Lehrerschaft die Einstellung, sich für das Nichterreichen von Lernzielen bei einzelnen SchülerInnen nicht verantwortlich zu fühlen und das Problem an andere Personen (Lehrperson der nächsten Klasse, Schule oder Leistungsgruppe, TeamlehrerInnen bzw. SonderpädagogInnen, Eltern) abzugeben.
Die Verantwortungsübername für den Lernerfolg aller SchülerInnen ist jedoch eine notwendige Voraussetzung für ein intrinsisch motiviertes Interesse an einer effektiven Förderung jedes einzelnen Schülers bzw. jeder einzelnen Schülerin.

 Dominanz punktueller Leistungsfeststellungen
Mit Ausnahme der Feststellung der Mitarbeit ermöglichen alle erlaubten Formen der Leistungsfeststellung nur punktuelle Überprüfungen. SchülerInnen lernen damit sehr früh in ihrer Schullaufbahn bestimmte Inhalte und Kompetenzen für einen bestimmten Zeitpunkt zu lernen, um sie dann wieder (unbehelligt) vergessen zu dürfen, da die nächste Überprüfung wieder anderen Zielen gilt. In dieser Bedingung ist eine wesentliche Wurzel für die geringe Nachhaltigkeit des Lernens in unseren Schulen auszumachen. Sie sind aber auch eine Bedingung (unter anderen) für die zu geringe innere Differenzierung unseres Unterrichts. Es ist zumindest Praxis, dass die punktuellen Leistungsfeststellungen für alle SchülerInnen einer Klasse gleich sind. Warum soll man dann vorher im Unterricht große Unterschiede machen, dient er doch der Vorbereitung z. B. auf die für alle gleiche Schularbeit?

 Schulangst als Folge der Leistungsbeurteilung
Der Zusammenhang von Schulangst und schlechten Leistungen ist empirisch belegt (Beer 2004, Rost und Schermer 2001, Olechowski und Sretenovic 1983, Schwarzer 1975). Vor allem high-stakes Überprüfungen, also solche mit schwerwiegenden Folgen wie einer nicht genügenden Jahresbeurteilung, lösen Angst aus. Da alle unsere Leistungsfeststellungen solche Konsequenzen haben können, wundert es nicht, dass Eder (2007) in Österreich keine Abnahme bei der Schulangst zwischen 1994 und 2005 feststellen konnte. Unser Leistungsbeurteilungssystem erweist sich auch unter diesem Aspekt als wenig lernförderlich.

 Sozialnorm als Bezugsnorm
§ 18 des SchUGs schreibt für die Beurteilung die fünfstufige Notenskala vor. Es wird auch klar ausgedrückt, was mit den Noten beurteilt werden soll:
 die Selbständigkeit der Arbeit
 die Erfassung und die Anwendung des Lehrstoffes
 die Durchführung der Aufgaben und
 die Eigenständigkeit
Damit ist als Bezugspunkt die Sachnorm vorgegeben. Das ist auch gut so, denn man besucht die Schule, um etwas zu lernen und um Kompetenzen zu erwerben. Eine (formative) Beurteilung als Rückmeldung ist auch für eine positive Lernentwicklung notwendig. In Österreichs Schulen wird aber in der Praxis die Sozialnorm als Bezugspunkt verwendet. Benotet werden hier die Leistungsunterschiede zwischen den SchülerInnen, die die Noten auch innerhalb jeder Klasse entsprechend der Gaußschen Kurve verteilt. Sie führt damit alle Individualisierungsbemühungen mit dem Ziel eines zielerreichenden Lernens, die eine linksschiefe Verteilung, also mehr bessere Noten als schlechte aufweisen sollte, ad absurdum. Die Anwendung der Sozialnorm anstelle der Sachnorm führt auch dazu, dass die Noten inhaltlich nichtssagend sind und Leistungsverbesserungen nicht zu einer besseren Note führen müssen. Sie fördern daher nur extrinsische Motivationen, aber keine intrinsische, die die Triebkraft für nachhaltige Lern- und Leistungsentwicklungen sind.

 Mangelnde Objektivität, Zuverlässigkeit und Gültigkeit:
Leistungsfeststellungen und -beurteilungen, die für die SchülerInnen in unserem differenzierten Schulsystem bedeutsame Konsequenzen für ihre Schullaufbahn und damit für die Gestaltung ihres Lebens haben, sollten im hohen Maße objektiv, zuverlässig und gültig sein. Die vielen empirischen Untersuchungen, die in den letzten Jahrzehnten zu dieser Frage durchgeführt wurden, zeigen leider ein anderes Bild. Es hängt im hohen Maße von der Lehrperson ab, wie eine bestimmte Schulleistung beurteilt wird. Das bedeutet, dass gleich leistungsfähige SchülerInnen in unserem System nicht dieselben Beurteilungen erhalten und ihnen daher auch nicht die gleichen Schullaufbahnen offenstehen.

Welche Reformmaßnahmen sind notwendig?
Erfolgreiches Lernen bedarf der Bewertung, aber nicht im summativen, sondern im formativen Sinn. Lernförderliche Leistungsbeurteilungen sind Lerndiagnosen, die den SchülerInnen helfen, ihr Lernen erfolgreich zu gestalten. Die Verbindung der Noten mit Selektionsmaßnahmen verhindert dies. Die Leistungsbeurteilung muss daher ihre selektiven Konsequenzen verlieren. Selektion und Lernförderung bedürfen unterschiedlicher Regelungen. Dies ist für die Grundschule eine alte Forderung, da hier die selektiven Konsequenzen seltener zum Tragen kommen. So hat die Leistungsbeurteilung am Ende der ersten Schulstufe keine selektiven Folgen: Die erste Schulstufe kann nur freiwillig wiederholt werden. Auch dies passiert seit der Umgestaltung des Schuleingangsbereiches durch die Aufnahme der Vorschulstufe in die Grundstufe I nur mehr äußerst selten, da eine Umstufung z.B. in die Vorschulstufe jederzeit im Einverständnis mit den Eltern auf Grund der Beobachtungen der Lernentwicklung durch die Lehrperson erfolgen kann. Diese Regelung, die sich vor allem bei der gemeinsamen Führung der Grundstufe I bewährt hat, macht eine inhaltlich sinnvolle Leistungsbeurteilung mit Ziffernnoten unmöglich. Dies war offensichtlich dem Gesetzgeber bewusst, da in der Grundstufe I letztlich unbeschränkt viele Schulversuche mit alternativen Formen der Leistungsbeurteilung möglich sind. Diese werden auch von vielen LehrerInnen genützt. Die Frage stellt sich, wie weit die jährliche Administration der unzähligen Schulversuche zu rechtfertigen ist, mit der die Schulen, die Bezirks- und Landesschulräte sowie das BMUKK beschäftigt sind.

Leider sind diese Möglichkeiten auf der Grundstufe II eingeschränkt. Der Übertritt in die AHS und HS wird durch die an bestimmte Noten gebundene AHS-Berechtigung gesteuert. Das hat unerfreuliche Auswirkungen auf die Leistungsbeurteilung in der Grundschule (Druck der Eltern auf die Grundschullehrerin), die in letzter Zeit oft in den Medien beschrieben wurden und u.a. zu den Mittelschulversuchen führten.

Unter diesem Aspekt ist eine Reform der Leistungsbeurteilung für die ersten acht Schulstufen zu fordern, da auch die momentanen Regelungen für die HS und AHS viele Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten bewirken (siehe Helmut Seel ebenda). Die lernförderliche Umgestaltung der Leistungsbeurteilung ist längst überfällig. Sie wurde für den Grundschulbereich in der Vergangenheit immer wieder gefordert. Durch die geplanten Überprüfungen der Bildungsstandards auf der 4. und 8. Schulstufe, die die summativen Ergebnisse des Schulunterrichts objektiver, zuverlässiger und gültiger erfassen können als die jetzigen Beurteilungen und durch die Erprobung der Mittelschule, deren Besuch keine besonderen Berechtigungen erfordert, hat sich der Kontext weiter verändert, der eine solche Reform erfordert, aber auch begünstigen sollte.

Die einleitende Analyse der bestehenden Leistungsbeurteilung zeigt deren vielfältigen Auswirkungen auf andere Bereiche. Eine Reform der Leistungsbeurteilung darf daher nicht isoliert erfolgen, soll sie nicht - wie die wenigen „kosmetischen" Versuche in der Vergangenheit - neue Widersprüche erzeugen. Ein Gesamtpaket, das nun die KoaliationsverhandlerInnen für die Bildung zu schnüren haben, böte eine gute Gelegenheit für einen stimmigen größeren Wurf, in dem die Leistungsbeurteilung ihren entsprechenden Platz finden sollte.