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Helmut Seel / Umgestaltung der Grundschule - eine Herausforderung der Bildungspolitik und Bildungswissenschaft !

von Helmut Seel
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Die internationalen Vergleichsuntersuchungen der Schulleistungen am Ende der Grundschule nach Absolvierung der 4. Schulstufe (Trends in Mathematic and Science Study TIMSS 1997, Progress in International Reading Literacy Study PIRLS 1998) haben deutlich gemacht, dass die Durchschnittlichkeit der österreichischen Schülerinnen und Schüler bereits in der Volksschule begründet ist und nicht erst im Bereich der Sekundarstufe I (PISA bei den 15- bis 16-Jährigen) in Erscheinung tritt. In Mathematik erreichten die österreichischen Volksschüler Rang 17 unter 36 teilnehmenden Staaten, in den Naturwissenschaften einschließlich der Geographie Rang 17. Die Untersuchung der Lesefertigkeit zweigte Österreich auf Rang 20 bei einer Teilnahme von 45 Staaten. Sorgen muss die große Zahl von Risikoschüler bereiten, die nur unzureichende Leistungen nachweisen konnten, z. B. bei PIRLS 16 %.

Als erste Reaktion auf diese Befunde wurde die Verlängerung und Intensivierung der vorschulischen Erziehung im Kindergarten gefordert (zwei Jahre Besuchspflicht, gezielte Sprach- und Denkförderung). Die Reform der Grundschule wurde noch nicht zur Diskussion gestellt. Dazu in der Folge einige Anmerkungen.

Eine erste betrifft die konsequente Umgestaltung des Schuleingangsbereichs. Durch die Einführung der Vorschulklasse 1983 (nach Schulversuchen ab 1971 mit Vorläufern in Wien) wurde die sinnlose Rückstellung vom Schulbesuch für schulpflichtige, aber nicht schulreife Kinder abgeschafft und durch die Möglichkeit gezielter Förderung ersetzt.

Bereits 1993 (SchUG) wurden die 1. und 2. Schulstufe zu einer Beurteilungseinheit (schon im Lehrplan der Volksschule 1963: „Keine streng begrenzten Leistungsanforderungen für den Übergang in die 2.Schulstufe") zusammengefasst: Auf Grund der großen Altersstreuung der Schulanfänger von einem ganzen Lebensjahr (ein enormer Entwicklungsspielraum bei den 6- bis 7-Jährigen) und der unterschiedlichen vorschulischen Förderung wurde damit eine Individualisierung der Lernverläufe ermöglicht, für welche erst am Ende der 2. Schulstufe verbindliche Leistungskriterien stehen. Für das Ende der 1. Schulstufe werden nur Mindestziele als Richtwerte ausgewiesen (z. B. Beherrschung des Lesens der Druckschrift)., die aber in der Realität weit überschritten werden. Aber auch ihr Nichterreichen verhindert aber nicht das Aufsteigen in die 2. Schulstufe.

Die Zwecke dieser Maßnahmen wurden aber nur eingeschränkt erreicht. Den Kindern in den Vorschulklassen fehlen die Lernvorbilder im Sozialverband. Effekte des Lernens der Schüler und Schülerinnen von einander werden damit ausgeschlossen. Aber auch die lehrplanmäßigen Rahmenbestimmungen für die 1. und 2. Schulstufe lösten nicht die angestrebte Individualisierung im Lerntempo und damit in der benötigten Lernzeit aus. Es wird zum Beispiel weiterhin mit traditionellen Lehrgängen des Elementarunterrichts gearbeitet, welche zum Teil durch die jahreszeitlich thematische Bindung der Lehrmaterialien (Fibeln) eine einheitliche Lerngeschwindigkeit vorgeben. Durch solche didaktische Strukturen werden Risikoschüler erzeugt, da nicht rechtzeitig und in ausreichendem Ausmaß auf ihre Schwächen eingegangen werden kann.

Derartige Problemanalysen führten zur Einführung einer optionalen Gestaltung einer der Grundstufe I als Eingangsstufenklasse (SchOG-Novelle 1998), in welche alle schulpflichtigen eintreten und in Zusammenfassung der 1. und 2. Schulstufe einen Lernverband bilden, der von zwei Lehrern betreut wird. Dieser Lernverband ist insofern stabil, als jedes Jahr rd. die Hälfte der Kinder als Schulanfänger eintritt und rd. eine Hälfte der Schülerinnen und Schüler den Lernverband durch den Übertritt in die 3. Schulstufe verlässt. Die Zusammenfassung von Schülern aus zwei Altersjahrgängen erlaubt vielseitige Formen des sozialen Lernens. Es gibt immer Helfer, die in der Hilfestellung ihre eigenen Fähigkeiten verbessern. Die Kinder erleben, wie sich der Erwerb von Kompetenzen in einer veränderten Stellung im Sozialverband niederschlägt: Aus dem Hilfsbedürftigen wird der derjenige, der Hilfe leisten kann. Diesem Lernverband gehören die Kinder meist zwei Schuljahre lang an, die Eingangsstufenklasse kann aber auch drei Schuljahre lang besucht werden. Eine frühe Dokumentation des Scheiterns durch die Verweigerung des normalen Schulstarts und Einweisung in die Vorschulklasse wird dadurch vermieden. Besonders befähigte Schulanfänger können aber auch bereits nach einem Schuljahr die Leistungen für den Übertritt in die 3. Schulstufe mit Sicherheit erbringen und die Eingangsstufenklasse verlassen. Das Überspringen einer Schulstufe, das ja gesetzlich möglich ist, verliert damit den Charakter einer besonderen Aktion.

Von der Möglichkeit der Führung von Eingangstufenklassen wurde bisher nicht allgemein Gebrauch gemacht, nur in wenig gegliederten Volksschulen (2 Klassen für 4 Schulstufen wegen geringer Schülerzahl im Schulsprengel) ergab sich das Zusammensein der Kinder der 1. und 2. Schulstufe von selbst. Aber dann war eine solche Klasse in zwei Abteilungen zu gliedern. Ein erster Teil der Grundschulreform: die allgemeine Einführung der Schuleingangsklasse. Wesentlich wird dabei in Zukunft die Abstimmung mit den Bildungszielen des verbindlichen Kindergartenjahres für alle 5-Jährien sein. Bei der inhaltlichen Planung sollte jedenfalls nicht ein Vorgriff auf Bildungsziele der Volksschul-Grundstufe erfolgen, sondern die Lernvoraussetzungen für deren Erreichen verbessert werden.

Eine andere Problematik kennzeichnet die Grundstufe II (3. und 4. Schulstufe der Volksschule). Die Weiterführung der Lehrgänge des muttersprachlichen Unterrichts (Lesen, mündliche und schriftliche Sprachgestaltung, Bewusstmachen der Sprachstruktur/Sprachlehre, Rechtschreibung) und des Mathematiklehrgangs, der über ein bloßes Rechentraining hinausgreifen soll, setzen jeweils eine besondere fachdidaktische Kompetenz voraus. Gezielte Hilfestellung bei Schwierigkeiten im Lernfortschritt erfordert eine sachverständige Identifikation der Ursachen der Handlungsdefizite der Schülerinnen und Schüler. Um solche besonderen fachlichen und fachdidaktischen Leistungen in den Unterricht einzubringen zu können, ist eine Schwerpunktsetzung im Rahmen der Lehrerausbildung für die Grundschule oder in der Lehrerfortbildung der Volksschullehrer wichtig.

Für den Unterricht in der 3. und 4. Volksschulstufe (Grundstufe II) erfordert eine solche Steigerung der fachdidaktischen Leistungen in der individuellen Betreuung der Schülerinnen und Schüler im Klassenverband ein Zweilehrersystem. Je ein Lehrer mit der besonderen Kompetenz im muttersprachlichen Unterricht und ein Lehrer mit dem Fachdidaktikschwerpunkt Mathematik führen gemeinsam zwei Klassen und teilen sich die übrigen Fächer nach Interesse und Sachverstand, was insbesondere für den Bereich der musisch-künstlerischen Lernfelder von Bedeutung sein könnte. Das Zwei-Lehrer-Team betreut entweder zwei Parallelklassen oder zwei aufeinander folgende Schulstufenklassen.

Vom Zweilehrersystem sind aber neben den positiven Auswirkungen hinsichtlich der fachlichen Schülerleistungen auch weitere beachtliche pädagogische Effekte zu erwarten:
- Der Schülergruppe stehen zwei erzieherische Bezugspersonen gegenüber. Das Zustandekommen positiver Beziehungen zum Lehrer wird daher wahrscheinlicher.
- Die Leistungsbeurteilung wird an Objektivität gewinnen, auch wenn jeder der Lehrer die Schülerinnen und Schüler nur in seinen Fächern beurteilt. Wahrnehmungsverzerrungen (z. B. Vorurteile) können relativiert werden. Leistungsschwächen der Schülerinnen und Schüler werden besser wahrgenommen und lassen sich besser vertreten.
- Das Zweilehrersystem der 3. und 4. Volksschulstufe bereitet das Fachlehrersystem in maßvoller Weise vor. Im Fachlehrerunterricht sehen sich die Schüler mit teilweise recht unterschiedlichen Lehrererwartungen konfrontiert. Die Schülerinnen und Schüler sollen jedenfalls die Erfahrung machen, dass ihnen in den einzelnen Lernbereichen Fachlehrer besonders kompetente Lernhilfe bieten können.

Das Konzept des Zweilehrersystems für die Grundstufe ist nicht neu. Es war ein Teil des Schulversuchsplans für die Volksschule, der vom damaligen Schulsprecher der ÖVP und nachmaligen Präsidenten des Landesschulrats für Oberösterreich K. Eckmayr 1971 im Rahmen der „Schulversuche für die Schulreform" vorgelegt wurde. Der Schulversuch ist bis 1982 gelaufen und wurde trotz fehlender Evaluation in der 7. SchOG-Novelle ohne Reformkonsequenz beendet. Die Zeit war damals offensichtlich noch nicht reif dafür. Inzwischen ist viel Zeit vergangen !