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Helmut Seel / Ist die Zeit eines Resumees gekommen?

von Helmut Seel
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Die ÖVP kann sich bei der von ihr dominierten Lehrergewerkschaft bedanken: Dieses Mal muss sie nicht als Partei die weitere Schulentwicklung blockieren, wie dies schon mehrmals praktiziert wurde. Man ist im entscheidenden Augenblick der Unterrichtsministerin in den Rücken gefallen, indem ein fauler Kompromiss zur Beendigung des Konflikts angeboten wurde. Dass die SPÖ zugelassen hat, dass ihre Ministerin dabei nachhaltig beschädigt wurde, zeugt nicht von bildungspolitischem Weitblick.

Muss man bereits ein Resumee der Ära der Unterrichtsministerin Dr. Schmied ziehen oder wird sie noch etwas bewegen können ? Das Bild, das sich bietet, ist zwiespältig.
> Die Senkung der Klassenschülerhöchstzahl auf 25 Schüler im Schulpflichtbereich ist als Erfolg zu verbuchen. Den Prozess auf der Oberstufe des Schulsystems fortzusetzen, ist jedoch noch nicht gelungen. Bildungspolitisch ist die Sache nicht umstritten. Es fehlen allerdings die notwendigen Budgetmittel, daher ist ein Fortschritt nicht zu erwarten.
Dass die Senkung der Schülerzahlen auch zu gesteigerter Effizienz geführt hat, ist noch nicht zu erkennen. Im Grundschulbereich sind ergänzende strukturelle und didaktische Maßnahmen noch nicht realisiert worden. Hier müsste dringend die Ideologie des Klassenlehrers gebrochen werden. Das Lehrerteam ist wirkungsvoller. Es erhöht die Chancen einer positiven emotionalen Lehrer-Schüler-Beziehung, verbessert die Möglichkeiten individueller Lernhilfe angesichts der Altersstreuung als Folge der jahrgangsmäßigen Rekrutierung der Schulanfänger mit unterschiedlichem sozio-kulturellen Background, und es lässt eine Verbesserung der objektiven Beurteilung der Schüler erwarten, da Vorurteile und Wahrnehmungsverzerrungen reduziert werden können.
Auf der Sekundarstufe I mit dem ausgeprägten Fachlehrerunterricht müsste die Senkung der Klassenschülerzahlen durch Veränderungen in den Zeitstrukturen ergänzt werden. Die 100-Minuten-Einheit des Unterrichts sollte im Schulzeitgesetz als kleinste Norm festgeschrieben werden, epochale Gestaltungsformen im Verlauf des Unterrichtsjahres wären zu forcieren. In zeitlich über die Woche verstreuten 50-Minuten-Portionen ist auch mit 25 Schülern keine nachhaltige Veränderung des vortragenden Frontalunterrichts zu erwarten.
Fazit: Notwendige ergänzende Veränderungen im Schulorganisationsgesetz und im Schulzeitgesetz fehlen noch bzw. sind noch nicht einmal andiskutiert worden.

> Die Absicht, über die Entwicklung der Neuen Mittelschule die Schultypendifferenzierung der Sekundarstufe I abzuschaffen, ist gescheitert. Allerdings ist auch die Gegenstrategie der ÖVP, nämlich durch einen Schulversuch die Entwicklung zu blockieren, und zwar sowohl hinsichtlich eines Reformzeitpunkts als auch bezüglich einer Umfangsbegrenzung, nicht aufgegangen. Auch in ÖVP-dominierten Bundesländern findet die Neue Mittelschule überraschenden Zuspruch. Dazu trägt freilich auch bei, dass die Struktur der Neuen Mittelschule nicht näher bestimmt wurde und daher große Interpretationsspielräume vorhanden sind. Obwohl beispielsweise als ein Kennzeichen der Neuen Mittelschule die Abschaffung der Leistungsgruppendifferenzierung der Hauptschule herausgestellt wurde, wird an dieser in den Neuen Mittelschulen in Vorarlberg - wo nahezu alle Hauptschulen in Neue Mittelschulen umgewandelt wurden - beibehalten. Und auch die Dauer wird nicht einheitlich vorgegeben: Um Schulversuche in Niederösterreich zu sichern, kann sich die Neue Mittelschule auch bloß auf die 5. und 6. Schulstufe beschränken. Die weitere Entwicklung ist nicht schwer vorauszusagen: Alle Hauptschulen werden über kurz oder lang für die Neue Mittelschule optieren. Sie wird unter Aufhebung der Schulversuchsbeschränkung flächendeckend installiert werden. Die AHS-Unterstufen werden die Schulversuchsoption nicht ausnützen und in ihrer bisherigen Form erhalten bleiben. Die Neue Mittelschule wird mit neuem Namen die Hauptschule des Schulsystems ersetzen. Man wird an 1983 erinnert: Auch die Schulversuche mit der Gesamtschule endeten mangels Beteiligung der AHS-Unterstufe mit einer Hauptschulreform. Die ÖVP hat damals der reformierten Hauptschule der Name Mittelschule verweigert, sie wird ihn diese Mal wohl akzeptieren.
Ein inhaltlicher Fortschritt: Man kann nun in der Neuen Mittelschule das Zeugnis des Realgymnasiums erwerben, 1983 wurde nur ein prüfungsfreier Übertritt in höhere Schulen bei entsprechenden Leistungen zugestanden. Im Kampf um das Befriedigend des zweiten Leistungsniveaus - missverständlicher Weise wird dabei immer von Leistungsgruppe gesprochen - als ausreichendes Kriterium für die Übertritt ohne Aufnahmeprüfung ist die SPÖ damals unterlegen.
Die Leistungsbeurteilung der Sekundarstufe I unter Bezugnahme auf drei Leistungsniveaus wird wohl in der Neuen Mittelschule als Konsequenz des Verzichts auf Leistungsniveau-gruppen abzuschaffen sein. Die Kriterien für den Abschluss der Neuen Mittelschule mit dem Zeugnis des Realgymnasiums fehlen noch. Sie werden einheitlich festzulegen sein. Man kann vermuten, dass die Unterrichtsministerin allerdings in einer Art „vorauseilendem Gehorsam" die Weichen bereits gestellt hat: Sie hat sich in der Novellierung des Schulunterrichtsgesetzes mit freundlicher Unterstützung der ÖVP die Einführung von Leistungsstandards gesetzlich fundieren lassen. Eine Bindung des AHS-Zeugnisses der Neuen Mittelschule an bestimmte Testwerte ist zu erwarten.
Fazit: Wenigstens wurden wieder Schulversuche für die Entwicklung der Sekundarstufe I gesichert, nachdem die vorher bestehenden in der SchOG-Novelle 2006 durch die Abschaffung des § 131 c ihre gesetzliche Grundlage verloren hatten. Eine Novellierung des Schulunterrichtsgesetzes hinsichtlich der Leistungsbeurteilung auf der Sekundarstufe I als Voraussetzung für das Gelingen der Neuen Mittelschule wurde leider noch nicht in Angriff genommen.

Weiteren wichtigen Reformabsichten der Unterrichtsministerin können angesichts der Erfahrung, dass die ÖVP-gestützte Lehrergewerkschaft in der österreichischen Schulpolitik das Sagen hat, wenig Erfolgsaussichten zuerkannt werden. Das gilt sowohl für die Ganztagsschule als auch für die Maturareform.

Die Zeit der Reformen wird offensichtlich von einer Zeit der Visionen abgelöst. Interessant ist, dass alle - die „Schule der Zukunft" der Bundesministerin („Zukunft" 2009/3) ebenso wie „Bildung 2020" der Industriellenvereinigung und das „Ischler Papier" der Sozialpartner und die „Revolution im Schulsystem", die Minister Dr. Hahn im Interview mit der „Kleinen Zeitung" (16.4.2009) verkündet - zur Schulorganisation der Mittelstufe (Sekundarstufe I) des Schulsystems Aussagen vermeiden. Der „status quo" wird weiter überdauern. Und mit ihm die selektive Ausrichtung des Schulsystems, insbesondere der Grundschule, welche vor allem dort pädagogische und didaktische Erneuerungen be- oder verhindert.