Mit diesem Diktum hat weiland Bundeskanzler Dr. Kreisky einen uninformierten Journalisten bedacht. Man kann diesen Vorwurf des tatsächlichen Nichtwissens oder des wirksamen Verdrängens der österreichischen Schulentwicklung dem ÖAAB-Vorsitzenden Bundesminister Spindelegger nicht ersparen.
Sein als „Wende in der Bildungspolitik" bezeichneter Vorschlag bezüglich der Hauptschule wurden schon übereinstimmend in den Zeitungen bewertet: Kein Fortschritt gegenüber dem Status quo ! Hier soll darauf hingewiesen werden, dass dieser Status quo bereits eine lange Vergangenheit hat. Daran muss die Fortschrittlichkeit des ÖAAB-Vorschlags gemessen werden.
Seit dem „Hauptschulgesetz" 1927, in welchem ein bildungspolitischer Kompromiss zwischen den Sozialdemokraten (welche eine Allgemeine Mittelschule forderten) und den Christlichsozialen (welche den elitären Charakter der Mittelschulen erhalten wollten) in der Ersten Republik gefunden wurde, existiert das System der Durchlässigkeit zwischen der in zwei Klassenzügen geführten Hauptschule und der Untermittelschule. Schüler mit „gutem Gesamterfolg" (Beurteilung mindestens „Gut" in Deutsch und Mathematik sowie in der Fremdsprache im I. Klassenzug der Hauptschule) waren berechtigt zum Übertritt in die nächsthöhere Stufe der Mittelschule mit gleicher Fremdsprache. Die Lehrpläne zwischen der Hauptschule und der im „Mittelschulgesetz" 1927 ebenfalls reformierten Mittelschule wurden koordiniert. So wurde beispielsweise der Beginn des Fremdsprachenunterrichts in der zweiten Klasse einheitlich festgelegt, um den Übergang von der Volksschule in die Schularten der Mittelstufe pädagogisch qualitativer gestalten zu können.
Dieser Kompromiss in der Demokratisierung des Schulsystems blieb den Christlichsozialen allerdings ein Dorn im Auge. Sie nützten daher die Möglichkeit ihrer Abschaffung im autoriären Ständestaat 1934: Der II. Klassenzug der Hauptschule wurde abgeschafft und die Hauptschule verlor damit ihren Gesamtschulcharakter. Und - noch wichtiger - die Durchlässigkeit zwischen Hauptschule und Mittelschule wurde beseitigt, insbesondere durch Vorziehung des Beginns des Fremdsprachenunterrichts in die erste Klasse der Mittelschulen. Hier ist im ÖAAB-Bildungskonzept tatsächlich ein Fortschritt zuerkennen: Von der Ideologie des ständisch dreigegliederten Schulsystems (Volksschuloberstufe - Bürgerschule - Mittelschule) hat man sich endlich verabschiedet.
In der Zweiten Republik wurde wieder die Schulorganisation aus 1927 wiederhergestellt, wenn auch mit Zögern in einigen ÖVP-dominierten Bundesländer: So wurde der II Klassenzug nicht überall eingeführt und lieber auf eine „Landschulreform" mit Reform der Volksschuloberstufe gesetzt. Oder am Lateinischen als erste Fremdsprache festgehalten, obwohl generell eine moderne Fremdsprache für den Beginn des Fremdsprachenunterrichts in der Mittelschule festgelegt worden war. Die Durchlässigkeit zwischen dem I. Klassenzug der Hauptschule und der Mittelschule wurde wieder hergestellt, indem man den in der NS-Zeit eingeführten Beginn des Fremdsprachenunterrichts in der ersten Klasse der Hauptschule beibehielt.
Erst im Schulorganisationsgesetz 1962 wurde der Zustand aus 1927 endgültig durchgesetzt. An der Situation haben leider auch die Schulversuche mit der Integrierten Gesamtschule, die von 1971 bis 1983 durchgeführt wurden, nicht geändert. AHS-Unterstufen hatten sich an den Schulversuchen nicht beteiligt, die Schulversuche führten nur zur Hauptschulreform: Einführung der drei Leistungsniveaus für die Unterricht in Deutsch, Mathematik und der Fremdsprache an Stelle der zwei Klassenzüge der Hauptschule. Dem wurde die Bestimmung über den „Gutem Gesamterfolg" angepasst: Beurteilung „Gut" auf der zweiten Leistungsebene (Leistungsgruppe). Die Übertrittberechtigung wurde auf den Bereich der berufsbildenden höheren Schulen erweitert.
Auf den Schulversuch „Neue Mittelschule" nimmt das ÖAAB-Konzept nicht Bezug. Stellt er doch in der Absicht der Unterrichtsministerin Dr. Schmied einen Schritt zu einer allgemeinen Mittelschule dar, Hauptschullehrer und AHS-Lehrer unterrichten gemeinsam. Allerdings fehlt in diesem Schulversuch noch eine Neuregelung des Beurteilungssystems der Sekundarstufe I (Ersatz der drei Leistungsniveaus in den genannten Unterrichtsgegenständen). Falls das bildungspolitische Ergebnis der Schulversuche sein sollte, die Hauptschule durch die Neue Mittelschule zu ersetzen und daneben doch die Unterstufe der höheren Schulen bestehen zu lassen, werden die Durchlässigkeitsbestimmungen neu zu regeln sein.
Die Absichtserklärung der Wissenschaftsministerin Dr. Karl ist verständlich, ist sie doch ein Beispiel dafür, dass die Hauptschule in Österreich ihre Gesamtschulfunktion zumindest im ländlichen Raum tatsächlich erfüllen kann. Sie selbst hat die leistungsdifferenzierte Hauptschule besucht und die damit verbundenen Durchlässigkeit im Bildungssystem genützt. Diese Hauptschule ersetzt tatsächlich die Funktion des Gymnasiums und könnte daher diesen Namen erhalten. Die Freude der Unterrichtsministerin Dr. Schmied über den Vorschlag der Wissenschaftsministerin sollte aber beachten, dass die Wissenschaftsministerin in ihrem allgemeinen Gymnasium an Maßnahmen der organisatorischen Leistungsdifferenzierung der Hauptschule denkt, die im Schulversuch der „Neuen Mittelschule" abgeschafft werden. Die im ÖAAB-Konzept angestrebte „Aufstiegsschule" ist in der Hauptschule bereits gegeben.
Mit Recht schenkt man den Hauptschulen im Einzugsbereich der laufend expandierenden Unterstufen der AHS besondere Aufmerksamkeit und zweifellos werden sich auch in diesen „Resthauptschulen" noch vereinzelt besonders befähigte Schülerinnen oder Schüler befinden. Ihre Förderung wäre aber gerade in einer Gesamtschulsituation besser gesichert, wenn sie mit anderen vergleichbar befähigten Schülern lernen könnten, miteinander und voneinander und mit gezielter Lehrerunterstützung. Eine Aufhebung regional oder sozialbedingter Bildungsbehinderungen lässt sich nur durch eine allgemeine, flexibel leistungsdifferenzierte Mittelschule erreichen, auch wenn diese Schulorganisation als eine des vergangenen Jahrhunderts diffamiert wird. Manchmal überschreiten eben Lernprozesse zum Abbau von fragwürdigen Ideologien Jahrhundertgrenzen.