Trauerfeier für die Wiener Mittelschule

von Helmut Seel

Die Wiener Variante der Mittelschulentwicklung gab zur Hoffnung Anlass. In diesem Modell wurde tatsächlich die Gesamtschule, die nach den erfolgreichen Schulversuchen 1971 bis 1983 auf Grund des Widerstandes der ÖVP nur als Schulorganisation der Hauptschule eingeführt wurde, weiter entwickelt und modernisiert. Zwar rückt man in der Wiener Mittelschule von einer durchgehenden äußeren Leistungsdifferenzierung durch drei Leistungsgruppen in Deutsch, Englisch und Mathematik ab, trägt aber – orientiert an den Lehrplänen 2000, die wortident für die AHS-Unterstufe und die Hauptschule verordnet wurden - der für die Gesamtschule notwendige Leistungsdifferenzierung Rechnung. In den genannten Fächern werden für alle Schüler verbindliche Kernkurse geführt, für welche zwei Drittel der Unterrichtszeit des Faches verwendet werden. Ein Drittel der Unterrichtszeit wird je nach Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler in Leistungskursen zur Erweiterung des Lehrstoffes oder in Übungs- bzw. Wiederholungskursen zur Festigung des Grundstoffes verbracht. Die Wiederholung einer Schulstufe wird damit weitgehend aufhoben. In der Gesamtbeurteilung am Ende der 4. Klasse (8. Schulstufe) wird eine von der erfolgreichen Teilnahme in den Leistungskursen abhängige Berechtigung zum prüfungsfreien Übertritt in der Oberstufe der AHS und in die BHS ausgesprochen. Dies entspricht den Berechtigungen, die in der Hauptschule erworben werden und dort an den Besuch der I. Leistungsgruppen oder mit der Beurteilung „Gut“ in den II. Leistungsgruppen gebunden sind.

Die Neue Mittelschule, wie sie von der Unterrichtsministerin Dr. Schmied propagiert wird, weist solche Strukturmerkmale nicht auf. Vielmehr wird die äußere Leistungsdifferenzierung generell abgelehnt. Man setzt vielmehr nur auf inner Differenzierung. Die Individualisierung der unterrichtlichen Lernhilfen soll – unterstützt durch den zeitweisen Einsatz eines Zweitlehrers im Team Teaching – den unterschiedlichen Lernbefähigungen der Schülerinnen und Schüler Rechnung tragen. Dieses im Bildungsprogramm der SPÖ für eine gemeinsame Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen vorgesehene Konzept wird nun auf Drängen der Unterrichtsministerin, welche der ÖVP jedoch den weiteren Bestand der AHS zusichern musste, in allen bisherigen Hauptschulen eingeführt, Der Prozess soll 2015/16 abgeschlossen sein, obwohl bisher jede schulgesetzliche Regelung der Organisation und der Leistungsbeurteilung (einschließlich der Berechtigungen zum Übertritt) fehlt. Sie wird bis zum Sommer 2012 abgekündigt. Auf die Regelungen darf gespannt gewartet werden, befindet sich die Unterrichtsministerin in dieser Angelegenheit doch in der Geiselhaft der ÖVP, welche den Maßnahmen zustimmen muss.

Mit Recht hat die Präsidentin der Wiener Stadtschulrats diese Entwicklung abgelehnt: „Wir wollen keine Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Bildung. Diese gibt es, wenn AHS und NMS parallel laufen. Mir wäre eine echte Mittelschule für alle 10- bis 14-Jährigen am liebsten“ (ÖSTERREICH 20-9-2011). Doch der Bürgermeister und Landeshauptmann Häupl sieht das anders. Mit Nachdruck und ohne bildungspolitischen Sachverstand ordnete er die Einführung der Neuen Mittelschule der Unterrichtsministerin auch in Wien an. Nach der Zeitung ÖSTERREICH vom 21.9. „hat er den Druck auf die Präsidentin des Stadtschulrats Susanne Brandsteidl vor der nächsten Sitzung der neun Landesschulräte entsprechend erhöht“.

Zwar bleiben die bisher laufenden 22 Wiener Mittelschulen bestehen, aber die Chancen einer für Österreich maßgebenden „Wiener Schulreform“ erscheinen jedoch vertan.