Die Neue Mittelschule – Fortschritt oder Rückschritt?

von Klaus Satzke

Nahezu zeitgleich mit dem Anlaufen des Bildungsvolksbegehrens hat BM Dr. Schmied ein Gesetzespaket zur Übertragung des Schulversuches Neue Mittelschule ins Regelschulwesen in Begutachtung gesendet. Das ist kein Zufall und soll wohl heißen: Seht her, in der Bildungspolitik herrscht nicht Stillstand, sondern ich bin (gemeinsam mit dem Koalitionspartner) handlungsfähig. Nun gut, man sagt ja: Bewegung ist besser als Stillstand! Im Folgenden soll der Frage nachgegangen, in welche Richtung die Bewegung aktuell geht und wie die längerfristigen Folgen aussehen könnten.

- Die vorgeschlagenen Veränderungen beschränken sich nahezu ausschließlich auf die Hauptschule. Die Reform soll mit dem Schuljahr 2012/13 beginnen und bis 2018 /19 die Hauptschule vollständig durch die Neue Mittelschule ersetzen.

- Wie schon die „alte“ Hauptschule setzt auch die Neue Mittelschule den erfolgreichen Abschluss der 4. Stufe der Volksschule voraus und hat ansonsten – im Unterschied zur AHS – einen freien Zugang. Sie soll eine vertiefte, nach Maßgabe der individuellen Leistungsfähigkeit aber jedenfalls auch eine grundlegende Allgemeinbildung vermitteln … und für den Übertritt in mittlere und höhere Schulen befähigen.

- Die an erster Stelle genannte vertiefte Allgemeinbildung stellt hier die Querverbindung zur AHS her, deren Aufgabe es laut SchOG ist, eine „umfassende und vertiefte Allgemeinbildung“ zu vermitteln. Mit der vertieften und der grundlegenden Allgemeinbildung wird also für die Neue Mittelschule die größere Bandbreite des Bildungsangebotes ausgedrückt. Die „vertiefte Allgemeinbildung“ steht für das gemeinsame Bildungsangebot von Neuer Mittelschule und AHS, auch wenn ungeklärt bleibt, mit welcher Art von Semantik man die „umfassende, vertiefte Allgemeinbildung“ an der AHS und die lediglich „vertiefte Allgemeinbildung“ an der Neuen Mittelschule ausdeuten soll.
So oder so, es ist schon einigermaßen absurd, mit welchen Wortspielen unsere Schulgesetze die Unterschiede zwischen Schularten und die folgenschwere Trennung der Bildungswege ab dem 10. Lebensjahr erklären wollen.

- Bei den Regelungen zur Hauptschule wurde die Schnittmenge zur AHS bisher durch die Festlegung „Die Anforderungen der höchsten Leistungsgruppe haben jenen der Unterstufe der allgemeinbildenden höheren Schule zu entsprechen“ (§ 16 Abs.2) festgelegt sowie durch die Verordnung von weitgehend wortidenten Lehrplänen für Hauptschule und AHS.
Im vorliegenden Entwurf für die Neue Mittelschule fehlt diese Eindeutigkeit, und hinsichtlich der Lehrpläne für die NMS heißt es überdeutlich, dass in den differenzierten Pflichtgegenständen der Lehrstoff der grundlegenden und jener der vertieften Allgemeinbildung gesondert auszuweisen ist. Das verunmöglicht somit wortidente Lehrpläne! Mit einer Portion Optimismus kann man aber annehmen, dass die Lehrpläne hinsichtlich der „vertieften Allgemeinbildung“ und der „umfassenden, vertieften Allgemeinbildung“ weitgehend gleichgehalten werden. Erinnert sei daran, dass es im Schulversuch „Neue Mittelschule“ etliche Versuchsmodelle gab, die als Grundlage des Unterrichts den Lehrplan des Realgymnasiums herangezogen haben. Diese Eindeutigkeit ist nun gefallen!

- Mit speziellen Regelungen für „Modellversuche an allgemein bildenden höheren Schulen“ zur „Verschiebung der Bildungslaufbahnentscheidung und zur Weiterentwicklung der Sekundarstufe I“ wird ein Element in die geplante SchOG-Novelle aufgenommen, das über den Rahmen einer engen Hauptschulreform hinausweist. Der Begriff Neue Mittelschule wird tunlichst vermieden, aber der Bezug zu Strukturelementen der Neuen Mittelschule (§§ 21 a bis c) hergestellt. Echte Versuche in einem geschlossenen Einzugsbereich werden wieder verhindert (Bestehende AHS innerhalb des politischen Bezirkes haben im erforderlichen Ausmaß weiterzubestehen!). Aber wer will schon glauben, dass sich an diesen Schulversuchen überhaupt eine nennenswerte Zahl von AHS-Standorten beteiligen wird? Unklar bleibt, auf der Grundlage welchen Lehrplanes in diesem Schulversuch gearbeitet wird. Naheliegend wäre es, den künftigen Lehrplan der Neuen Mittelschule heranzuziehen, aber so konkret will man offenbar nicht werden.

- Ein wesentliches Element der Regelungen zur Neuen Mittelschule ist der Verzicht auf die von vielen ungeliebten Leistungsgruppen, die ja ein wesentlicher Bestandteil der Hauptschulreform 1985 war. Nunmehr ist vorgesehen, dass die Schüler in den differenzierten Pflichtgegenständen (Deutsch, Mathematik, Lebende Fremdsprache) durch

o temporäre Bildung von Schülergruppen,

o Bildung von Förder- bzw. Leistungskursen und

o Unterrichten im Lehrerteam (Teamteaching)

zu fördern sind.

Eine Diskussion über die vorliegenden bzw. auch fehlenden Erfahrungen mit den verschiedenen Formen der Individualisierung und Differenzierung soll hier ganz bewusst ausgeklammert werden. Notwendig erscheinen aber im Zusammenhang mit dem vorliegenden Begutachtungsentwurf 2 Hinweise:

o Die Feststellung, ob ein Schüler auf der Basis der grundlegenden oder der vertieften Anforderungen beurteilt wird, erfolgt erst auf der 7. und 8. Schulstufe. Im Hinblick auf die weitreichenden Konsequenzen, die mit dieser Feststellung verbunden sind, erscheint das außerordentlich spät.
Das Novellierungspaket regelt ja auch (an anderer Stelle) den Übertritt von der Neuen Mittelschule in die Sekundarstufe II. Für einen prüfungsfreien Übertritt in die weiterführenden höheren Schulen ist (hier verkürzt wiedergegeben; genauer, siehe § 40 Abs. 3) in den differenzierten Pflichtgegenständen das Erreichen des Bildungszieles der „Vertiefung“ vorgesehen. Wenn das Erreichen dieses Bildungsziel von den Eltern / Schülern nachhaltig angestrebt werden soll, dann erscheint eine Information darüber in der 7. bzw. 8. Schulstufe reichlich spät.

o Flexible Formen der Individualisierung und Differenzierung stellen für die LehrerInnen eine komplexe und anspruchvolle Aufgabe dar. Mangels entsprechender Begleituntersuchungen zum Schulversuch „Neue Mittelschule“ wissen wir wenig über das tatsächliche Gelingen dieser Maßnahmen. Es muss jedenfalls verhindert werden, dass durch unkoordinierte, unzureichende Maßnahmen zu wenig Förderung von begabten Schülern bzw. zu wenig Stützung von schwächeren Schülern erfolgt. In diesem Zusammenhang ist daher zu fordern:

Ausreichende und rechtzeitige Information von SchülerInnen / Eltern über das Erreichen der grundlegenden bzw. vertieften Bildungsziele.Über die Beurteilungsfrage hinausgehende Maßnahmen einer erweiterten Mitsprache von SchülerInnen / Eltern im Wege von Schulautonomie.Einbindung von Maßnahmen der Individualisierung und Differenzierung in ein Konzept der Teambildung bzw. von Teamentscheidung, damit ein ausreichendes Maß an professioneller Selbstkontrolle gewährleistet ist.

- Was im vorliegenden Entwurf völlig fehlt, dass ist die Berücksichtigung der unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten, denen sich eine Hauptschulreform – bedingt durch die mehr oder weniger große Nähe zu AHS – Standorten – stellen müsste. Es ist einigermaßen absurd, so zu tun, als könnten Schularten, die im Gesetz säuberlich getrennt werden, auch in der Schulrealität ohne Bezug zueinander auskommen. Man muss nicht unbedingt ein Vertreter einer Gesamtschule sein, um zur Erkenntnis zu kommen, dass eine mehrjährige Schulentwicklung, die mit vielen Hoffnungen und jedenfalls vielen materiellen und personellen Investitionen verbunden ist, nicht ohne weitergehende Kooperationsformen zwischen unterschiedlichen Schularten auskommen kann. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es einigermaßen absurd, eine Hauptschulreform in Gang zu setzen, die keinerlei Formen einer verpflichtenden schulartenübergreifenden Kooperation vorsieht.

Fazit:

Das Gesetzespaket zur Neuen Mittelschule

- enthält eine gute Lösung im Bereich der Übertritte von der NMS in weiterführende höhere Schulen,

- vermeidet die Herumturnerei zwischen Leistungsgruppen sowie eine Ghettobildungen im Bereich der III. Leistungsgruppe.

- Dies geht aber zulasten eines Differenzierungssystems, das ein hohes Maß an Intransparenz besitzt und eine rechtzeitige und nachhaltige Förderung nicht sicherstellen kann,

- gibt dem Ministerium aufgrund der unveränderten Länderkompetenz bei Pflichtschulen wenige Chancen auf die Einleitung echter Qualitätsprozesse,

- lässt offen, was mit den „Resthauptschulen“ im Einzugsbereich von höheren Schulen geschehen soll,

- gibt Schulversuchen an den AHS durch eine klare Akzentsetzung auf die Vermeidung zu früher Schulbahnentscheidungen eine richtige Grundlage,

- gibt in diesem Zusammenhang aber keinerlei Hinweise auf eine notwendige schulartenübergreifende Kooperation und verhindert flächendeckende Schulversuche mit einem gemeinsamen Einzugsbereich.