« vorheriger Artikel | Home | nächster Artikel »

Ein bildungstheoretisches Fieberthermometer dringend gesucht? Schwierigkeiten bei der Realisierung der Neuen Mittelschule

von Helmut Seel
Artikel drucken

Die Unterrichtsministerin hat ihr Gesetz über die ,,Neue Mittelschule" durchgeboxt. Der
Erfolg ist fragwürdig im Hinblick auf die Realisierung eine allgemeinen Mittelschule,
einer gemeinsamen Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen. Der ÖVP musste die
Erhaltung der Langform der AHS zugestanden werden. Die Unterstufe der AHS bleibt
somit erhalten, der neue Schulversuchsparagraph ist Augenauswischerei. Die
Hauptschule wird abgeschafft.

Das Verhältnis von Hauptschule und Unterstufe der AHS war/ist transparent auf Grund
der Leistungsdifferenzierung in der Hauptschule. Beide Schulen (bei der AHS das
Realgymnasium) haben einen wortidenten Lehrplan mit Lehrstoffreduzierung in
Deutsch, Mathematik und Fremdsprache auf dem mittleren (2. Leistungsgruppe) und
unteren Leistungsniveau (3. Leistungsgruppe) der Hauptschule. Die obere Niveaustufe
(1. Leistungsgruppe) ist der AHS-Unterstufe gleichgestellt. Damit ist Durchlässigkeit
gegeben und in der Hauptschule können die gleichen Berechtigungen zum Übertritt in
die Oberstufenschulen erreicht werden. Ein Toleranzspielraum ist durch die
Einbeziehung der Note ,,Gut" in der mittleren Leistungsebene in die
Übertrittsqualifikation gegeben.

Bei der „Neuen Mittelschule" ist das Verhältnis zur AHS - Unterstufe schwieriger zu
durchschauen. Die ,,Neue Mittelschule" erhält einen eigenen Lehrplan, der nicht nur
durch Lehrstoffunterschiede, sondern durch Bildungsqualitäten bestimmt wird. Sie hat
allen Schülern ,,jedenfalls eine grundlegende Allgemeinbildung", nach Möglichkeit
jedoch ,,eine vertiefte Allgemeinbildung zu vermitteln". Den Unterschied versucht man
zu erläutern: Die Lernangebote der vertieften Allgemeinbildung ,,haben im Hinblick auf
den Grad der Komplexität eine vertiefte Auseinandersetzung mit den grundlegenden
Bildungsinhalten in einer über die Grundanforderungen hinausgehenden Art zu
ermöglichen". Eine pleonastische Definition: ,,Vertiefte Allgemeinbildung" wird durch
,,vertiefte Auseinandersetzung" bestimmt.

Die schulpolitisch unklare Verwendung des Begriffs der Allgemeinbildung wird in dieser
Stelle besonders offenbar. Man muss sich den mit verschiedenen Attributen versehenen
Begriffe der Bildung und Allgemeinbildung im Schulorganisationsgesetz vor Augen
halten: Die Volksschule hat in der Grundstufe eine ,,gemeinsame Elementarbildung", in
der Oberstufe eine ,,grundlegende Allgemeinbildung" zu vermitteln. Die Hauptschule
zielt ebenfalls auf eine ,,grundlegende Allgemeinbildung" ab. Die berufsbildenden
mittleren Schulen haben die ,,erworbene Allgemeinbildung" zu ,,erweitern und zu
vertiefen". Die berufsbildenden höheren Schulen haben ,,eine höhere allgemeine und
fachliche Bildung" zu bieten und ,,zugleich zur Hochschulreife zu führen". Die
allgemeinbildende höhere Schule hat den Schülern ,,eine umfassende und vertiefte
Allgemeinbildung" zu vermitteln und ,,zugleich zur Hochschulreife zu führen".
Man vergleiche insbesondere den Bereich der Oberstufenschulen.

Eine inhaltliche Bestimmung des Begriffs der Allgemeinbildung wird nicht gegeben. Er
scheint offensichtlich durch den Fächerkanon ausreichend definiert: Als
Allgemeinbildung gilt offensichtlich das in den allgemeinbildenden
Unterrichtsgegenständen vermittelte Wissen und Können! Aus der Sicht der
Bildungswissenschaft ein längst überholtes Verständnis einer materialen Bildung. Im
Fächerkanon wird das in der Mitte des 19. Jahrhunderts anerkannte wissenschaftliche
Wissen repräsentiert. Er wurde mit dem ,,Organisationsentwurf für die Gymnasien und
Realschulen" 1849 eingeführt. Im 20. Jahrhundert wurde die Fachbezeichnung
Naturgeschichte durch Biologie ersetzt und unverzichtbare neue Lernbereiche wurden
meist an die traditionellen Fächer angeschlossen: Geschichte und Sozialkunde/Politische
Bildung, Geographie und Wirtschaftskunde, Biologie und Umweltkunde. Warum man
dabei ,,Wissenschaften" und ,,Kunden" unterscheidet, wird nicht geklärt. Eine
weitergehende Diskussion des Begriffs der Allgemeinbildung kann hier nicht geleistet
werden. W. Brezinka stellt beispielsweise klar: ,,lm Ideal der Allgemeinbildung geht es
aber nicht um wissenschaftliches Wissen, sondern um elementare Welt- und
Lebenskenntnis. Gewiss fließen in ihren Inhalt auch Ergebnisse wissenschaftlicher
Forschung ein, aber im Ganzen handelt es sich um lebenspraktisches
Orientierungswissen" (Allgemeinbildung: Sinn und Grenzen eines ldeals, in: Päd.
Rundschau 1998,53). Es geht um Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in
persönlichen und gesellschaftlichen Problemlagen.

Von diesem Gesichtspunkt aus ist ein Blick auf den Kanon der allgemeinbildenden
Unterrichtsgegenstände angebracht. Er umfasst Fächer zur Vermittlung von
Darstellungs- und Mitteilungstechniken in Sprach- und Zahlensystemen (in der
amerikanischen Didaktik ist von ,,tool subjects" die Rede) und Fächer zur Vermittlung
der Objekte und Subjekte in Natur und Kultur (,,cultural subjects"). Letztere werden
durch die. ersteren: vermittelt, erstere existieren ohne Inhalte nicht. In dem
angesprochenen Verständnis von Allgemeinbildung müssen die wesentlichen
Gegenstandsbereiche erschlossen werden, Sach- und Kunstfächer sind daher zentral.
In unseren Schulen ist es leider anders. Als Hauptfächer stehen die formalen
Unterrichtsgegenstände (sprach- und Rechenkompetenzen) im Vordergrund, die
,,Schularbeiten"-Unterrichtsgegenstände mit einem größeren Lernzeitanteil. Durch die
aktuelle Festlegung von ,,Bildungs"-Standards (das Wort ist zu hinterfragen) wird dieser
Sachverhalt noch verstärkt.

Von hier nochmals ein Rückblick auf die ,,Neue Mittelschule". Die Unterscheidung von
,,grundlegender" und ,,vertiefter Allgemeinbildung" wird wohl wie bisher bei den
Leistungsniveaus der Hauptschule durch die Vermittlung von etwas mehr bzw. etwas
weniger Lehrstoff operationalisiert werden. Aber man hat eine anspruchsvolle
Bezeichnung für einen einfachen Sachverhalt gefunden. Dass diese in
schulgeschichtlicher Betrachtung sogar falsch ist, bleibt unbemerkt. Bei Errichtung des
Gymnasium 1849 hatten nämlich Unterstufe und Oberstufe noch unterschiedliche
Bildungsziele, die in der Folge (Mittelschulgesetz 1927) der ,,Langform"- ldeologie zum
Opfer fielen. Ab damals gelten die Oberstufenziele für die ganze achtklassige Schule. Die
Oberstufe können die Begriffe der ,,umfassenden" (wohl im Vergleich zu BHS) und der
„erweiterten" Allgemeinbildung richtig charakterisieren. Für diese ist im
Mittelstufenbereich der Grund zu legen. Seit 1984 gilt daher zu Recht: Für die
Hauptschule mit dem Ziel der Vermittlung einer ,,grundlegenden Allgemeinbildung" und
der Unterstufe der AHS gelten wortgleiche Lehrpläne. Und damit gilt wohl auch das
gleiche Bildungsziel. Für die Unterscheidung unterschiedlicher Schulleistungen in den
Sprachen und in der Mathematik in der ,,Neuen Mittelschule" sollten andere
Bezeichnungen gesucht werden.