Der Nationale Bildungsbericht 2012

von Helmut Seel

Im Jahr 2009 wurde beschlossen, das österreichiche Bildungswesen in einem Nationalen Bildungsbericht darzustellen und dies in einem dreijährigen Zyklus fortzusetzen.. Der nun vorliegende zweite Nationale Bildungsbericht 2012 besteht wie sein Vorgänger aus zwei Bänden.

Band 1 („Das Schulsystem im Spiegel von Daten und Indikatoren“) wurde von M. Bruneforth und L. Lassnig herausgegeben, welche auch die beiden verantwortlichen Institutionen repräsentieren (Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung/BIFIE und Institut für Höhere Studien/IHS). In diesem Band werden alle für das österreichischen Bildungswesen aus verschiedenen Quellen (BIFIE: Berichte zu den internationalen Vergleichsstudien TIMSS, PIRLS, PISA; Statistik Austria: „Bildung in Zahlen“; OECD: „Bildung auf einem Blick“; EUROSTAT) verfügbaren Daten dokumentiert und interpretiert.

Die Fülle des Datenmaterials wurden nach dem Prozessmodell gruppiert: A. Kontext des Schul- und Bildungswesens, B. Inputs – Personelle und finanzielle Ressourcen, C. Prozess (Strukturen und Schülerströme), D. Output in Ergebnissen des Schulsystems, E. Übergang aus dem Schulsystem in die Arbeitswelt, F. Outcome – Wirkungen des Schulsystems. In den ausführlichen Kommentaren werden die aktuellen Befunde zur Charakterisierung nach Möglichkeit durch Darstellung von Entwicklungen in Längsschnitten und Vergleichen mit internationalem Datenmaterial ergänzt.

Der Band 2 bringt „Analysen bildungspolitischer Schwerpunkte“, die in fünf Bereiche mit je zwei Abhandlungen gegliedert werden: A. Kompetenzen der SchülerInnen – B. Kompetenzen der Lehr- und Leitungspersonen – C. Chancengerechtigkeit und Mehrsprachigkeit – D. Schulformen – E. Neue Steuerungsformen. Während im Nationalen Bildungsbericht 2009 die Teilbereiche des Bildungssystems mit ihren Problemen präsentiert wurden, ist die vereinigende Klammer über die Beiträge im Bildungsbericht 2012 die Qualitätsentwicklung der Schule. Von den Beiträgen sind auch Kurzversionen (Umfang zwei Seiten) verfügbar. In der Einleitung der Herausgeberin B. Herzog-Punzenberger werden Kurzbeschreibungen dieser Beiträge gegeben.

Die Themenwahl erfolgte in „Wechselwirkung zwischen politischen Akteurinnen und Akteuren, artikuliert durch das BMUKK, und der Bewertung durch Expertinnen und Experten“ (5). Mit der Bearbeitung der einzelnen Themen wurden Wissenschaftlergruppen beauftragt. Die Texte wurden einem „Peer Review“ durch Experten aus dem deutschsprachigen Raum unterzogen. Die Leitung hatte eine Steuerungsgruppe, bestehend aus den Universitätsprofessoren Bucher (Linz), Eder (Salzburg) und Spiel (Wien). Anzumerken ist, dass im Unterschied zum Bildungsbericht 2009 die Literaturangaben an das Ende eines jeden Beitrags gestellt werden, was die Lektüre wesentlich erleichtert.

Im Hinblick auf die verbindende Klammer Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung an Schulen erscheint die Anordnung der Beiträge nicht optimal. Einleitend sollte wohl der letzte, zehnte Artikels (E 2 Gutknecht-Gmeiner: „Europäische Bildungsinitiativen und nationale Bildungspolitik: Erfahrungen und Bewertungen des nationalen Umgangs mit EU-Initiativen“) stehen, der „eine Übersicht über die europäische Bildungspolitik und deren Einfluss auf Österreich“ (397) bringt. Denn die Ausrichtung auf Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung in Österreich ist eine Folge der Entwicklungen in Europa. Der „Europäische Qualitätsrahmen“ (412) soll nicht nur „arbeitsmarktrelevante, berufliche Qualifikationen abbilden, sondern die gesamte allgemeine und berufliche Bildung im Sinne des lebenslangen Lernens umfassen“ (412). Er „erzeugt keine Verbindlichkeiten oder Berechtigungen“, sondern soll dazu dienen, „Transparenz, Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit zwischen den Mitgliedsstaaten herzustellen“ (412). Österreich entwickelte auf dieser Grundlage einen Nationalen Qualifikationsrahmen, der 2009 dem Ministerrat vorgelegt wurde.

Auch nach dem Maastricht-Vertrag unterliegt nur die Berufsbildung (einschließlich der Universitäten) den Regulierungen der EU, die Allgemeinbildung bleibt weiterhin im Rahmen nationler Regelungen und Systembildungen. Trotzdem wird die Idee eines einheitlichen europäischen Bildungsraums verfolgt, indem „in einer offenen Methode der Regulierungen“ Richtwerte („bench marks“) für die Schulsysteme der EU-Staaten empfohlen werden. Sie werden in Österreich in einigen Fällen (Schulabbrecherquote 10 %, Österreich 9,5 % - Beteiligung an vorschulischer Bildung 95 %, Österreich 91,3 % bereits oder nahezu erreicht, in anderen (Reduzierung der Risikoschüler in den Grundkompetenzen 15 %, Österreich 35 % - Hochschulabsolventenquote 40 %) besteht noch Verbesserungsbedarf. Der Artikel enthält im übrigen auch eine interessante Zusammenstellung der Institutionen, Initiativen, Projekte und Resultate zur Europäisierung des österreichischen Bildungswesen.

In Österreich wurde als Instrument der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung eine evidenzbasierte outputorientierte Steuerung des Schulsystems eingeführt, welche durch Bildungsstandards für die Gelenkstellen des Schulsystems und einheitlich vorgegebene Abschlussprüfungen (Zentralmatura an den Höheren Schulen) wirksam werden soll. Daher sollte an diese europapolitische Einleitung der Artikel über die Bildungsstandards anschließen, gefolgt von den Beiträgen zu personalen (Lehrerqualität) und methodischen (Unterrichtsqualität) Befähigungen. Beiträge zur Schulsystemqualität (institutioneller Bereich) werden anschließend besprochen. Wer den zweiten Band des Bildungsberichts als Ganzes lesen möchte, dem wird empfohlen, dem Lesepfad zu folgen, den der Verfasser in der folgenden Darstellung selbst einschlägt.

Die Besprechung des neunten Artikels (E 1 H. Altrichter/A. Kanape-Willingshofer: „Bildungsstandards und externe Überprüfung von Schülerkompetenzen: Mögliche Beiträge externer Messungen zur Erreichung der Qualitätsziele der Schule“) bedarf einer Vorbemerkung. Die Verwendung des Begriffs „Bildungsstandards“ ist aus der Sicht der Bildungswissenschaft fragwürdig. Der Begriff „Leistung“ wäre korrekt: Leistungsstandards. Zur Begründung: Unter Bildung kann das Produkt der pädagogischen (erzieherischen und unterrichtlichen) Bemühungen, ergänzt durch die Lebenserfahrungen, verstanden werden. Wissen und Können (Kompetenzen) bilden nur die Grundlagen der Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des gebildeten Menschen. In der Institution Schule tragen die Realien und die musisch-künstlerischen Unterrichtsgegentände genau so (wenn nicht mehr) zur Bildung bei als die Unterrichtsgegenstände der Informationsvermittlung (Sprachen) und der Informationsverarbeitung (Mathematik, Informatik). Dazu kommt noch die Wirkung des überfachlichen Lernens, das im Rahmen der Unterrichtsprinzipien stattfindet. Die derzeitige Entwicklung unterstreicht jedoch einseitig die Bedeutung der „Hauptfächer“ und drängt die anderen Unterrichtsgegenstände in ihrer Bedeutung („Nebenfächer“) noch weiter zurück

Wie oben bereits angedeutet kam es in den Jahren 2005 bis 2010 zur Einführung einer neuen Steuerung des österreichischen Schulsystems durch eine „evidenzbasierte outputorientierte“ Kontrolle. Die traditionelle inputorientierte Lenkung des Schulsystems durch Gesetze, Verordnungen (Lehrpläne, Vorschriften zur Leistungsbeurteilung) sowie durch Ausbildungsqualität der Lehrpersonen wurde nicht mehr als ausreichend und zeitgemäß zur Sicherung der Schulqualität angesehen.
Im genannten Artikel wird das „Konzept der Steuerungsstrategien bildungspolitischer Erwartungen“ (356) erläutert. Die Definition der Bildungsstandards „als eine spezifische Version von Leistungsstandards“ (356) kann nicht überzeugen. Warum „typischerweise Bildungsstandards nicht die gesamte Breite des schulischen Lernens“ abbilden sollen, „sondern sich auf einen bedeutsamen und zentralen Lernbereich, der für alle Lernenden verbindlich ist“ (356) zu beziehen haben, erscheint mit Hinweis auf die einleitenden Ausführungen nicht überzeugend begründet.

Aus den gesetzlichen und verordnungsmäßigen Grundlagen der Bildungsstandards werden von den Autoren folgende „Wirkungsmechanismen“ herausanalysiert (vgl. 361 ff.): Setzen und Kommunizieren von Erwartungen mit dem Ziel der Verähnlichung – Berücksichtigung der Erwartungen im Handeln der Akteure wie ergebnisorientierte Unterrichtsgestaltung und individuelle Förderung – „Periodische Messungen“ von Leistungen – Rückmeldung der erreichten Ergebnisse – „Entdeckug von Ist-Soll-Differenzen“ – „Entdeckung von Chancenungleichheit und Förderung von Zielgruppen - „Entwicklungshandlungen auf allen Ebenen“ – „Qualitätsentwicklung an Schulen“ – Evaluierung der Qualitätsentwicklung“. Diese Ziele werden tabellarisch mit Kennzeichnung der Wechselwirkungen zusammengefasst (vgl. 365). Im Hinblick auf die genannten Zielstellungen wird die vorliegende österreichische, deutsche und englisch-amerikanische Literatur umfassend aufgearbeitet. Dabei wird auf zwei unterschiedliche Formen der Testungskonzepte hingewiesen: „Low-stakes“-Systeme und „High-stakes“-Systeme. Letztere finden sich in englischsprachigen und einigen skandinavischen Staaten. In diesen sind die Testergebnisse eng mit der Leistungsbeurteiung verknüpft oder bestimmen diese sogar.

„Low-stakes“-Systeme zeigen keine direkten Einflüsse auf die individuelle Leistungsbeurteilung. Sie erlauben aber auf verschiedenen Ebenen Ergebnisvergleiche und sollen Maßnahmen der Qualitätsverbesserung auslösen. Für die österreichischen Bildungsstandards gelten folgende Grundsätze: Sie überprüfen „Leistungen am Ende von Bildungsgängen“, an Gelenkstellen des Schulsytems. Sie können daher keine Maßnahmen für die Untersuchten auslösen. – Sie sind „Regelstandards“ (obwohl die schulpolitische Zukunftskommission „Mindeststandards“ empfohlen hatte.) – Sie haben keine Bedeutung für die Leistungsbeurteilungen.

Der zentrale Befund des Artikels: „Die Leitfragestellung dieses Beitrags – Welche Beiträge können Bildungsstandards und externe Überprüfungen von Schülerkompetenzen zur Erreichung verschiedener Qualitätsziele der Schule leisten? – kann für die gegenwärtige Ausformung der evidenzbasierten Steuerung in Österreich nicht abschließend beantwortet werden“ (376). Erreichbar scheint jedenfalls u. a.: Ist-Soll-Differenzen können bewusst gemacht werden; Lehrerurteile, die häufig durch soziale Faktoren verzerrt werden, können objektiviert werden.
Zu den aufgewiesenen „Handlungsoptionen“ (379) im Sinne weiterer flankierender Maßnahmen zählen vor allem: Hinweise auf zu enge Zielstellung der Bildungsstandards in nur drei Unterrichtsgegenständen geben, um eine Reduzierung der schulischen „Aufgaben der Enkulturation und gesellschaftlichen Integration“ (379) zu vermeiden. – Anstrengungen zu unternehmen, „die Profession dafür zu gewinnen, die Kernelemente der neuen Steuerungspolitik in ihr Verständnis professioneller Kompetenzen und Ziele aufzunehmen“ , da eine „Schwächung der Lehrerprofession durch zentrale Sanktionen“ (381) nicht ausgeschlossen werden kann. In der Lehrerausbildung sollte auf den richtigen Umgang mit evidenzorientiertem Datenfeedback vorbereitet werden. Abgeschlosen wird der Artikel mit einer langen Reihe an „Forschungsoptionen“ (382). Diese könnten eine Fundgrube für die Forschungsentwicklung an den Pädagogischen Hochschulen sein.

Besonders Artikel A 2 (F .Eder/F. Hofmann: „Überfachliche Kompetenzen in der österreichischen Schule – Bestandsaufnahme, Implikationen, Entwicklungsperspektiven“) ist im Sinne der oben genannten Maßnahmen zur Erhaltung des Bildungsauftrags der Schule wichtig. Er greift die Diskrepanz zwischen in den Schulgesetzen und in den Lehrplänen angeführten Bildungszielen und der Ausrichtung der Schulen auf das Erreichen fachspezifischer Lernziele auf. Dazu kommen die weitgehend unbeachteten, oft anlassbezogen kreierten (derzeit 12) Unterrichtsprinzipien, welche - unterstützt oft von Grundsatzerlässen des BMUKK – fächerübergreifende Lernergebnisse fordern. Dazu: „Der guten legistischen Verankerung emtspricht jedoch keine mit anderen Zielen der Schule vergleichbare Verbindlchkeit. Weder sind diese Zielsetzungen derzeit in das System der Leistungsfeststellung und Leistungsbeurteilung integriert noch besteht eine sonstige Art der Rechenschaftspflicht über ihre Umsetzung“ (74). Vielmehr wird die Wichtigkeit der fachlichen Lernziele derzeit durch die Einführung der Bildungsstandards noch verstärkt.

Auf die Ausnahme der Politischen Bildung, die auch als eigener Unterrichtsgegenstand geführt wird, wird hingewiesen. Nicht aufgegriffen wird hingegen der analoge Sachverhalt der Erweiterung traditioneller Fächer: Geographie und Wirtschaftskunde, Geschichte und Sozialkunde sowie Biologie und Umweltkunde. Vermutlich soll der Aspekt der Bildung durch die Bezeichnung „Kunde“ gegenüber der Wissenschaftsbezeichnung der traditionellen Unterrichtsgegenstände betont werden. Diesen Erweiterungen der Fachbereiche entspricht jeweils auch ein Unterrichtsprinzip. Unter diesem Gesichtspunkt wäre dann allerdings zu überlegen, ob nicht der Unterrichtsgegenstand Geographie besser Erdkunde und der Unterrichtsgegenstand Biologie besser Lebenskunde genannt werden sollte.

Nach einer inhaltlichen Bestimmung des Sachverhalts überfachlicher Kompetenzen als Bildungsziele werden die angestrebten Kompetenzen erläutert: Demokratische Kompetenz – Unternehmerische Kompetenz – Berufswahlkompetenz – Kulturelle Kompetenz – Soziale und interkulturelle Kompetenz – Selbstorganisierungskompetenz – Gesundheitskompetenz – Umweltkompetenz. Anzumerken ist, dass das „Problemlösen“ als „basale Kompetenz zur Bewältigung von Alltagssituationen“ (76) angesehen und der Selbstregulierungskompetenz zugeordnet wird. ImText fehlt ein Hinweis darauf, dass die Förderung des Problemlösens eine grundsätzliche didaktische und methodische Aufgabe ist. Der Ablauf der Unterrichtsprozesse ist dem Problemlösungsverlauf nachzugestalten. Die Gestaltpsychologie (M. Wertheimer, K. Duncker, W. Metzger) hat dazu die lernpsychologischen Grundlagen geliefert. Von einer Problemstellung (Problemfindung) ausgehend versuchen die Schüler, unterstützt durch den Lehrer, Einsicht in die Zusammenhänge zu finden und damit die Problemlösung zu entdecken. Die Einsicht ermöglicht den Vollzug der Problemlösung und bestätigt damit die Richtigkeit der Lösung. Anschließende Übungen dienen der Festigung durch Wiederholung, bereiten aber auch auf einen Transfer der entdeckten Problemlösung vor Dieser Unterricht ist zeitaufwändiger als ein systematisch darbietender Unterricht, und dies erfordert didaktische Voraussetzungen in der Lehrstoffgestaltung im Sinne des exemplarischen Lehrens, was aber zu Problemen mit der outputorientierten Steuerung des Schulsystems führen kann.

Im Kapitel B 1 wird von B. Schober et al. der Aspekt der Professionalitätsprobleme aufgegriffen: „Ergebnisorientierte Qualitätsentwicklung von Schule: Spezifische Kompetenzen von Lehrkräften, Schulleiterinnen und Schulleitern“. Das für die Professionsentwicklung der Lehrer angesichts von bestehenden Mängeln in der Feedback-Kultur und Defiziten in der Evaluationsbereitschaft grundsätzlich wichtige Thema wird zusätzlich mit der Einführung der outputorientierten Schulsystemsteuerung begründet. Jedenfalls stellt eine verbesserte Lehrer- und Schulleiterkompetenz einen gewichtigen Input-Faktor zur Systemverbesserung dar. Es wird daher genauer von „outputorientierter Inputsteuerung“ des Schulsystems zu sprechen sein. „Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Idee einer neuen Steuerung oder gar systematischen Qualitätsentwicklung sicher nicht alleine dadurch umzusetzen ist, dass Standards als neue Regelvorgabe und Input für das System zu sehen sind und Kompetenzen als Indikator ihrer Erreichung gemessen .... werden“ (113).

Ergebnisorientierte Qualitätsentwicklung von Schule erfordert spezifische Lehrerkompetenzen wie: angemessene Ziele zu definieren – wirkungsvolle Maßnahmen zu Zielerreichung zu setzen – die Zielerreichung zu überprüfen - aus der Überprüfung richtige Konsequenzen zu ziehen – Input-Evaluierng einzuleiten und durchzuführen (innerschulische Vergleiche der Schülerleistungen und des Lehrerverhaltens) – mit externer Evaluation sinnvoll umzugehen, d. h. aus Schul- und Schulsystemvergleichen richtige Schlüsse zu ziehen.

Die vorliegenden Modelle und Konzepte zur Lehrer- und Leiterkompetenzentwicklung werden vorgestellt. Die Betonung des Umgangs mit Diversität und der Kompetenzen zur „Individualisierung als Grundparadigma in der Schule“ (122) lässt eine Distanz zu einer an einheitlichen Normen ergebnisorientierten Outputsteuerung erkennen. In einer Untersuchung wird festgestellt, dass an den PHs und Universitäten die explizite Förderung der ergebnisorientierten Qualitätsentwicklung einen deutlichen Ausbaubedarf aufweist „Es gibt Standorte, an denen überhaupt kein Lehrangebot zur untersuchten Thematik identifiziert wurde“ (130).

Artikel B 2 (K. Krainer et al.: „Fachdidaktik und ihr Beitrag zur Qualitätsentwicklung des Unterrichts“) greift einen weiteren Aspekt der Unterrichtsqualität auf: die Fachdidaktik (FD), die „als interdisziplinäre Wissenschaft vom Lehren und Lernen“ (144) verstanden. Auch der Wissenschaftscharakter der FD zwischen wissenschaftlicher Disziplin und bildungstheoretischer Zielsetzung der Unterrichtgegenstände wurde zu bestimmen versucht: „FDen als transdisziplinäre und reflexive Wissenschaften“ (145). Zu wenig deutlich erscheint dabei ein grundlegende Aufgabenstellung der FD, den Bildungssinn der Unterrichtsgegenstände (Beitrag zur Allgemeinbildung als Fähigkeit zum Urteilen, Entscheiden und Handeln in persönlichen und gesellschaftlichen Problemsituationen) zu ermitteln und damit den jeweiligen Unterrichtsgegenstand zu konstituieren, d. h. eine nach exemplarischen Gesichtspunkten zu gestaltende Auswahl der Bildunginhalte vorzunehmen, bezogen auf die Entwicklungsstufe des Verstehens der Schüler. Dabei wäre wohl auch zu begründen, warum manche der wissenschaftlichen Disziplinen nicht auch zu Unterrichtsgegenständen geworden sind oder in anderen Unterrichtsgegenständen ihre Berücksichtigung gefunden haben. Für Österreich werden die FDen als noch „relativ schwach verankerte Wissenschaften“(146) angesehen, was auch in der Zweigleisigkeit der österreichischen Lehrerbildung begründet gesehen wird. Dies zeigt sich in der unterschiedlichen Qualifikation des Personals.

In der Folge wird der Stand der FD in den Unterichtsfächern Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften, Politische Bildung und Wirtschaftspädagogik erläutert. Ins Auge fällt das Defizit im Bereich der Grundschule. Eine besondere Situation besteht für die Didaktik der Politischen Bildung, deren Bedeutung nachdrücklich unterstrichen wird, deren Entwicklungsstand jedoch noch fragwürdig erscheint. Die inhaltlichen Konzepte reichen von der traditionellen Staatsbürgerkunde bis zur Bildung partizipationsfähiger Bürger. Als Fach ist die Politische Bildung mit Geschichte („Sozialkunde“) verbunden oder steht in Flächenfächern („Geschichte, Politische Bildung u. Wirtschaftskunde“ in den Höheren Technischen Lehranstalten). Weiters besteht das Unterrichtsprinzip „Politische Bildung“. In den Studien der Geschichte-Lehrer sind zwischen 12% bis 30% der Politischen Bildung gewidmet.

Einen Sonderstatus hat die Wirtschaftspädagogik. Das Studiun ist nicht kombinationspflichtig, Absolventen haben vor der Einstellung in den Schuldienst ein zweijähriges Praktikum zu leisten. Die Wirtschaftspädagogik versteht sich als „eigenständige Integrationswissenschaft mit gleichermaßen wirtschaftwissenschaftlicher wie erziehungswissenschaftlicher Ausrichtung“ (172).

Ein wichtiges fachdidaktisches Thema wird bereits im ersten Beitrag (A 1 K. Schabmann et al.: „Lesekompetenz, Leseunterricht und Leseförderung im österreichischen Schulsystem – Analysen zur pädagogischen Förderung der Lesekompetenz“) aufgegriffen: Ursachenforschung hinsichtlich dem in den internationalen Vergleichen festgestellten Problem der geringen Lesefähigkeit der österreichischen Schüler. Um ein Entwicklungskontinuum zu simulieren, werden im ersten Abschnitt („Leseleistungen im internationalen Vergleich“) die Daten von PIRLS 2006 und PISA 2009 zusammengefasst. Aus den Daten der 24 Staaten, die an beiden Untersuchungen teilgenommen haben, werden fiktive Punktewerte errechnet und neue Rangreihen gebildet. Der Befund (wenig überraschend): Österreichs Volksschulabgänger liegen im Mittelfeld der Staatengruppe (Rangplatz 12), Österreichs Sechzehnjährige befinden sich bei den Schlusslichtern (Rangplatz 22). Dieser Misserfolg liegt in erster Linie im hohen Anteil von Risikoschülern begründet.

In der Folge werden umfassend die Ergebnisse der Leseforschung zusammengetragen, und die am Erwerb der Lesefähigkeit und Lesefertigkeit beteiligten Faktoren erläutert: Individuelle Lernvoraussetzungen (neurokogniive Kompetenz, unterrichtssprachliche Kompetenz, Verhaltensprobleme, Geschlecht) – Soziale Einflüsse – Medienkonsum – Schulische Bedingungen (Methoden und zeitlicher Ablauf des Erstleseunterrichts, Maßnahmen zur Erleichterung des Lesenlernens, Unterricht im Leseverständnis). Daraus werden Folgerungen abgeleitet, und zwar hinsichtlich der Förderung basaler Leseprozesse, des Unterrichts im Leseverständnis und der Lesemotivation.

Als Problembereiche in der Leseförderung werden Mängel im grundlegenden Lehrerwissen zum Leseunterricht und in der diagnostischen Kompetenz der Lehrer als Folgen von Ausbildungsdefiziten festgestellt. „Von insgesamt 295 erfassten Modulen der Volksschullehrerbildung an den Pädagogischen Hochschulen ... setzten sich nur 13 (4 %) - bei sehr großzügigerAuslegung – mit den Grundlagen des Lesens bzw. des Lesenlernens auseinander“ (43). Angeführt werden außerdem die große Heterogenität in den Maßnahmen der individuellen Leseförderung (zurückgeführt u. a. auf die Methodenfreiheit der Lehrer), die wenig strukturierte Förderung des Leseverständnisses, die mangelhafte Verwirklichung des Unterrichtsprinzips Lesen (vgl. Grundsatzerlass des BMUKK zum Unterrichtsprinzip Leseerziehung), Mängel in der Sprachförderung insbesondere für Schüler mit nichtdeutscher Umgangssprache sowie Mängel in der Evaluation. Daraus werden Konsequenzen für die Ausbildung der Lehrer gezogen, u. a. besseres Erkennen und Fördern leseschwacher Schüler und Verbesserung der Qualitätssicherung im schulischen und außerschulischen Bereich. Auf „spezielle Problemstellungen“ wie Legasthenie. nichtdeutsche Umgangssprache sowie Bildungsferne von Bevölkerungsgruppen wird eingegangen und die daraus abzuleitenden schulpolitischen Forderungen (insbesondere Maßnahmen der Sprachförderung) werden erläutert.

Leider zeigen sich in diesem wichtigen Dokument Unklarheiten bezüglich der Didaktik und Methodik des Elementarunterrichts (Kompetenz- oder Interessendefizit ?). Literale Kompetenz umfasst neben dem Lesen auch das Schreiben, worauf im Beitrag jedoch nicht eingegangen wird. Lesen wird ja erst in der Begegnung mit Geschriebenem bedeutsam, durch welches Schreiber den Lesern Mitteilungen geben wollen. Lesen und Schreiben sind daher im schulischen Anfangsunterricht untrennbar verbunden, wie den Volksschullehrplänen zu entnehmen ist. Diesem Sachverhalt wird beispielsweise auch im Themenprogramm des IMST „Schreiben und Lesen“ Rechnung getragen (vgl. etwa die Beiträge von U. Esterl und J. Struger im IMST Newsletter 11/38, Herbst/Winter 2012). Gewöhnungsbedürftig ist schließlich die Formulierung „flüssiges Lesen“ an Stelle der im Volksschullehrplan verwendeten „fließendes Lesen“, phantasieanregend wirkt daher auch das Substantiv „Leseflüssigkeit“.

M. Bruneforth et al beschäftigen sich im Kapitel C 1 („Chancengleichheit und garantiertes Bildungsminimum in Österreich“) mit einer für das gesamte Bildungssystem grundlegenden Thematik. Einleitend werden die verwendeten Bgrifflichkeiten geklärt. Zusammenfssend: Bildungschancengleichheit liegt vor, wenn der Bildungserfolg nur von „legitimen Faktoren“ (der Befähigung des Schülers) abhängt und nicht von der „Herkunft“ (dem Geschlecht, der Ethnie, der Religion, dem Wohnort und dem sozialen Status der Eltern). Das Bildungsminimum ist das Mindestmaß an Bildung, das jeder Staatbürger erhalten soll (Bundes-Verfassungsgesetz Art. 14 Abs 5a: „Jeder Jugendliche soll befähigt werden, am Kultur- und Wirtschaftsleben Österrreichs, Europas und der ganzen Welt teilzunehmen“). In der Bildungschancengerechtigkeit wirken Bildungschancengleichheit und Bildungsminimum zusammen.

Die Ist-Situation im Hinblick auf die „Empirischen Ergebnisse zu den Gerechtigkeitszielen“ (105) wird untersucht. Die Untersuchung betrifft die „Gelenksstellen des Schulsystems“ (196), die 4. und 8. Schulstufe. Die Analyse stützt sich auf die Ausgangsmessungen der Leistungen für die Erstellung der Bildungsstandards-Tests (BIST-BL Bildungsstandards-Baseline). Das Datenmaterial, das zum Teil auch schon im Band I des Bildungsberichts vorgelegt wurde, wird mit komplexen inferenzstatistischen Verfahren analysiert, um die Bedeutung festzustellen, welche den einzelnen Faktoren der Herkunft („Ungleicheitsdimensionen“) und des Schulsystems bei den Schullaufbahnentscheidungen nach der Grundschule und der Sekundarstufe I zukommen. So wird beispielsweise die Wahl der Schulform nach der Grundschule zu 71 % durch die soziale Ungleichheit und nur zu 29 % durch die Schulleistung bestimmt. Beim Übergang in die Sekundarstufe II fällt der Effekt der Sozialstruktur geringer aus (37 % der Entscheidung), während das Geschlecht die weitere Schullaufbahn stärker bestimmt.

Vermerkt wird, dass die Neuen Mittelschulen nicht ausgewertet werden konnten, da dafür keine Daten in BIST-BL8 verfügbar waren. Verfügbare Daten lassen jedoch erkennen (vgl. 204), dass sich die AHS-Präferenz der Eltern mit höherer Bildung auch durch die Verfügbarkeit der NMS an Stelle der HS nicht geändert hat. Im Vergleich zwischen Schulsystemen verschiedener Staaten zeigt sich eine höhere „Abhängigkeit der Leseleistungen vom sozioökonomischen Status der Eltern“ (205) in Staaten mit früher Schullaufbahnentscheidung nach der Grundschule.

Beim Bildungsminimum werden Zertfikatsarmut und Kompetenarmut unterschieden. Als Zertifikatsarmut wird angesehen, wenn die Pflichtschule nicht abgeschlossen wird (Schulabbrecher) oder wenn nach dem Ende der Schulpflicht keine Ausbildung aufgenommen wird. Die EU-Vorgabe mit weniger als 10 % wird in Österreich (9 %) unterschritten. Kompetenzarmut wird durch das Ausmaß an Risikoschülern in den PISA-Untersuchungen angezeigt. Diese Gruppe ist in Österreich sehr groß: 28 % in Lesen, 23 % in Mathematik, 21 % in den Naturwissenschaften. Belastet sind insgesamt 32 % der Schüler, 14 % davon in allen drei Fächern; dazu kommen 6 % der Altersgruppe, welche das Schulsystem als Schulmündige bereits verlassen haben. Das Risiko steigt bei geringer Bildung der Eltern und unterer Sozialstruktur der Familie sowie bei anderer Alltagssprache als Deutsch. Auf die problematische Aussagekraft der Schulnoten wird hingewiesen.

In Summe wird festgestellt, „dass das österreichische Schulsystem durch ein hohes Ausmaß an Chancenungleichheit und Kompetenzarmut der Schülerinnen und Schüler gekennzeichnet ist“ (216). Als „Handlungsoptionen“ für die Lehrerbildung werden vorgeschlagen: Verbesserung in der Leistungsdiagnostik und der Befähigung zu differenzierter Förderung und strukturierter Unterrichtsführung. Der Schulverwaltung wird „die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Schulen mit schwierigen Ausgangsbedingungen“ (217) nahegelegt.

B. Herzog-Punzenberger und Ph. Schnell greifen im Kapitel C 2: „Die Situation mehrsprachiger Schüler/innen im östereichischen Schulsystem – Problemlagen, Rahmenbedingungen und internationaler Vergleich“ einen wichtigen Aspekt des vorhergehenden Artikels auf. Dabei wird über den Bereich der Kinder mit Migrationshintergrund – diese Thema wurde in einem Beitrag im Bd. 2 des Nationalen Bildungsbericht 2009 bereits bearbeitet – hinausgegangen und zum Beispiel auch die autochthonen Minderheiten einbezogen. Da als Begründung des Themas auch die „Mehrsprachigkeit als bildungspolitisches Anliegen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Schulgeschehens“ (229) genannt wird, fehlt wohl ein Ausblick auf die Probleme der Herstellung von Mehrsprachigkeit bei Schülern mit deutscher Umgangssprache durch Fremdsprachenunterricht sowie durch Kindergärten und Schulen mit (teilweisen) Unterricht in nichtdeutscher Unterrichtsprache. Im elitären Anspruch laufen derzeit die Schulen mit modernen Fremdsprachen als Unterrichtssprache den (akademischen) Gymnasien mit Unterricht in den alten Sprachen den Rang ab.

Der Artikel bringt eine umfassende Kompilation vorliegender österreichischer und internationaler Befunde zum Thema. Bei der Darstellung von diversen mehrsürachiger Kinder im österreichischen Schulsystem kommt vorwiegend der Migrationshintergrund ins Spiel, da aufgewiesen werden kann, dass bei den autochthonen anerkannten Minderheiten mit entsprechender Förderung auch der Minderheitensprache (vgl. Minderheitenschulgesetze für Kärnten und für das Burgenland) keine Benachteiligungen in den Bildungskarrieren im Vergleich zur einsprachigen deutschsprechenden Mehrheit zu registrieren sind.

Als Maßnahmen zur besseren Bewältigung von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität der Schüler wird neben der Sicherung des „Rechtsanspruchs auf Sprachförderung“ (257) die „Professionalisierung des Personals (Aus- und Weiterbildung der Lehrer/innen im Bereich sprachlich-kultureller Diversität, Erhöhung der Diversität unter den Lehrpersonen“ (258) angeführt. Als Desiderat wird die Untersuchung und Förderung „mehrsprachuger Elternarbeit“ (258) aufgewiesen. Weiters wird die bereits im Kapitel 5 empfohlene Berücksichtigung schwieriger Schulsituationen durch gezielten Ressourceneinsatz eingefordert.

Einen wichtigen Faktor des Aspekts der Bildungschancengerechtigkeit greifen im Artikel D 1 (G. Hörl et al.: „Ganztägige Schulformen – Nationale und internationale Erfahrungen, Lehren für die Zukunft“) auf, und damit einen Dauerbrenner der österreichischen Schulpolitik. Schulversuche wurden bereits 1974 gestartet, 1993 wurden ganztägige Schulformen (Unterrichts- und Betreuungsteil in getrennter oder verschränkter Form; bei letzterer die Zustimmung von zwei Drittel der Schüler und Lehrer im Schulforum oder Schulgemeinschaftsausschuss notwendig) als Regelvariante ins SchOG (§ 8d) aufgenommen. Die Entwicklung erhielt einen Anstoß durch die Novellierung der § 8d SchOG 2006, welche den Eltern wesentlich mehr Rechte für die Errichtung zuerkannte (zwingende Einrichtung bei Anmeldung der entsprechenden Schülerzahl). Der Ausbau wird derzeit von der Bundesregierung forciert (Steigerung von 103.000 Plätzen im Schuljahr 2009 auf 160.000 im Schuljahr 2015).

Der Beitrag bringt nach der Darstellung der Ist-Situation eine Zusammenfassung der bekannten und in zahlreichen neueren Publikationen wiederholten sozialpolitischen, bildungspolitischen und pädagogischen Argumente. Auch die Erhebungen über das Ausmaß des Nachhilfeunterrichts werden als Argument für die ganztägige Schule angeführt. Angesichts der aktuellen Diskussion über das Lehrerdientrecht wäre interessant zu wissen, wieviele Lehrer mit voller Lehrverpflichtung in welchem Ausmaß am Nachhilfeunterricht beteiligt sind.

Ein Gesamtbedarf von rd. 240.000 Plätzen wird errechnet und Ergebnisse von Umfragen zur ganztägigen Schule werden referiert. Nach IFES 2010 stimmen 78 % der befragten Eltern für die Ganztagsbetreuung der Schüler. Auch die BürgermeisterInnen bewerten zu 72 % die Ganztagsschule positiv, weisen aber auf Finanzierungsschwierigkeiten bei der Realisierung hin. Vorbehalte bestehen bei den Lehrerinnen und Lehrern, welche zu 50 % die Ganztagsschule, insbesondere ihre integrierte Form. ablehnen. Fazit: „Grundsätzlich gilt: Die verschränkte Form“ (integrierte Ganztagsschule) „hat konzeptionelle Vorteile, für sie sprechen vor allem bildungspolitische und pädagogische Überlegungen“ (283) gegenüber der offenen, additiven Ganztagsschule. Aus einer Schulleiterbefragung ergibt sich jedoch: 6,5 % (49 Ganztagsschulen) werden in voll in verschränkter Form geführt, 7,8 % in teilweise (einzelne Klassen) verschränkter Form, 85,7 % (772 Schulen) hingegen in offener, additiver Form. Den Ursachen wird nicht weiter nachgegangen, die politischen Positionierungen werden verschwiegen: Die SPÖ fordert die ganztägige Schulform nachdrücklich und bevorzugt die verschränkte, integrierte Form, die ÖVP ist aus ideologischen familienpoltischen Gründen zurückhaltender und präferiert die offene Nachmittagsbetreuung.

Interessant und informativ sind die auch in tabellarischer Form zusammengefassten Befunde der „Angebote für Betreuungs-, Lern- und Freizeiten nach Ganztagsschulformen“ (288) und der „Strukturmerkmale schulischer Betreuungsangebote“ (290). Über die Schulleistungen in den verschiedenen ganztägigen Schulformen im Vergleich zur Halbtagsschule liegen (noch) keine empirischen Befunde vor. „Die Erfahrungen aus Deutschland zeigen, dass sich ganztägige Schulen weniger direkt in der Leistungsdimension auswirken, sondern sich vielmehr Effekte im Motivations- und Sozialbereich zeigen“ (292).

Für die zukünftige Entwicklung in Österreich wird eine bessere Begleitung (monitoring) empfohlen, „bei dem über Angebot, Nutzung und Ressourceneinsatz regelmäßig und systematisch berichtet wird“ (296). Weiters sollen „output-orientierte Wirkungsstudien“ als „quasi-experimentelle Längsschnittstudien“ durchgeführt werden. Gefordert wird ein „allgemeingültiger Modellrahmen“, die „Verschränkung von Unterrichts-, Lern- und Freizeit entlang pädagogischer und entwicklungs- und lernpsychologischer Erkenntnisse“ sowie „einheitliche und transparente Dienst- und Besoldungsregeln für Lehrer/innen und anders pädagogisches Personal“ (300). Schuldig bleibt der Artikel die im Titel in Aussicht gestellte internationale Perspektive. Sie beschränkt sich auf den Blick nach Deutschland mit ähnlichen Problemen auf Grund der auch dort üblichen halbtägigen Unterrichtsschule. Es fehlen aber Ausblicke auf Schulsysteme, in denen die Ganztagsschule die selbstverständliche und lange bestehende Organisationsform darstellt.

Die bisher genannten schulsystembezogenen Beiträge im „Bildungsbericht“ ergänzt im Artikel D 2 L Lassnigg mit dem Thema „Die berufliche Erstausbildung zwischen Wettbewerbsfähigkeit, sozialen Ansprüchen und Lifelong Learning – eine Policy-Analyse“. Er hat dazu eine Fülle relevanter und interessanter Ansichten und Bedunde zusammengetragen, die sich nur schwer zusammenfassen lassen. Im ersten Abschnitt werden die „Grundstruturen, Trends und Besonderheiten der österreichischen Berufsausbildung“ (313) dargestellt. Im internationalen Vergleich beginnt die Berufsausbildung sehr früh (14./15. Lebensjahr), ist durch eine „ausgeprägte Hierarchie“ (315) (Universität – Fachhochschule – BHS – MHS – Lehre) gekennzeichnet und weist eine trotz Versuchen der Gegensteuerung geschlechtsspezifische Schwerpunktsetzungen auf (Defizit: Mädchen in technischen Berufen). Von der OECD, welche die Qualität der österreichischen Berufsbildung insgesamt anerkennt, werden jedoch u . a. kritisiert: die fragwürdige Stellung der 9. Schulstufe, eine zu geringe Berücksichtigung der Allgemeinbildung (Grundkompetenzen) in der Berufsbildung und die mangelhafte Qualitätssicherung in der Lehrlingsausbildung. Lassnigg vermeidet die Bezeichnung „Duales System“, weil der schulische Anteil (Berufsschule) zu gering ist und das erwähnte Defizit der allgemeinen Grundbildung daher besonders auftritt. Nicht problematisiert wird, dass der Lehrling insbesondere in kleineren Betrieben eine wichtige billige Arbeitskraft darstellt, die sich laufend ersetzen lässt.

Wichtig erscheint der Hinweis, dass die geringe Jugensarbeitslosigkeit „nur zu einem sehr geringen Teil auf die Berufsausbildung zurückgeführt werden kann“ (318), sondern eher auf die allgemein geringe Arbeitslosigkeit im Vergleich mit anderen EU-Staaten. Als wichtige Ziele der Entwicklung der Berufsbildung in Österreich (vgl. 319) werden einerseits die Reduzierung der Schulabbrecher und der nicht in Ausbildung befindlichen schulmündigen Jugendlichen und andererseits die Erhöhung der Absolventenzahl der Berufsreifeprüfung und der Hochschulabsolventen. Auf die Sozialpartnervorschläge (Neugestaltung der 9. Schulstufe, Einführung einer mittleren Reife bei Zusammenfassung von BMS, BS und überbetrieblicher Ausbildung, Reifeprüfung an der BHS nach der 4. Klasse und Diplomprüfung nach der 5. Klasse als tertiäre Ausbildung, Berufsakademien neben Fachhochschulen und Universitäten) als Perspektive der Entwicklung des Schulsystems wird hingewiesen. Wichtig erscheint auch die Professionalisierung des Lehrpersonals der Berufsschule.

Bei den „Problemanalysen“ (323) erscheinen insbesondere die Überlegungen zum Fachkräftebedarf interessant. In der „Situationsanalyse“ (328) werden u. a. die Zusammenhänge zwischen Fachkräftebedarf und demographischer Entwicklung angesprochen. Der Arbeitskräftebedarf kann längerfristig nur durch „Nutzung der älteren Jahrgänge und durch Zuwanderung“ (329) gedeckt werden. Dazu muss auch die Zahl der Schulabbrecher („offene Ausselektion“) und das Ausmaß der Risikoschüler im Schulsystem („innere Ausselektion“) reduziert werden.

Diw BHS fungiert als Institution zum sozialen Aufstieg, wobei zu beachten ist, dass rd. 50% ein Universitätstudium aufnehmen und 30 % in einer Fachhochschule weiterlernen. Die Beschäftigungswirksamkeit der BHS liegt bei Beachtung der Studienabbrecher bei rd. 75 %. Die Schüler-Verlustraten sind in den berufsbildenden Schulen hoch. Nur 55 % der BHS-Schüler absolvieren die Schule ohne Verzug, rd. 10 % wiederholen Schulstufen (Vergleichsdaten der BMS: 45 % bzw. 7 %). 24 % der BHS-Schüler wechseln in die BMS, 29 % der BMS-Schüler in die Lehre. Beim Leistungsvergleich zeigt sich, dass die obere Hälfte der BMS- und BS-Schüler mit der untere Hälfte der BHS korrespondiert.

In einem kurzen „Ausblick“ (339) werden die Politik (u. a. Neuordnung des Bereichs der 8./9. Schulstufe, Sicherung der Qualität der betrieblichen Ausbildung, Erweiterung des lebenslangen Lernens zur Kompetenzerhaltung) und die Forschung (u. a. Erforschung der pädagogischen Prozesse insbesondere in der Lehrlingsausbildung) sowie die Sicherung der Zuwanderungspotenziale angesprochen. Als „Prioritäten für evidenzbasierte Weiterentwicklung der Berufsbildung“ (342) werden abschließend u. a. genannt: Verbindung von Sprachförderung mit fachlichem Kompetenzerwerb bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Überprüfung der pädagogischen Praxis in der Berufsbildung sowie Professionalisierung des Lehrpersonals der betrieblichen Ausbildung.

Zuammenfassend und abschließend: Band 2 des Nationalen Bildungsberichts 2012 greift eine Reihe wichtiger Probleme des österreichischen Schulwesens auf und sucht Vorschläge zur Problemlösung. Er bringt eine Fülle von Informationen für alle an der Schule Interessierten und wird vor allem den Bildungspolitikern zur Lektüre empfohlen.

Im Rahmen der Qualitätsentwicklung des Schulsystems fehlen bedauerlicher Weise einige Themen: 1. Die Reform der Oberstufe der AHS durch die Modularisierung des Lehrplans und der neuen Beurteilungsregelungen zur Reduzierung des Wiederholens von Schulstufen; 2. Die Zentralmatura für die allgemeinbildenden und berufsbildenden höheren Schulen. Und 3. Der Übergang zur Neuen Mittelschule an Stelle der Hauptschule ohne vorherige Erprobung und Evalution, und damit zur Zukunft des § 7a SchOG, der nun totes Recht ist. Ein Ziel, mit der Neuen Mittelschule eine gemeinsame Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen zu schaffen, wird jedenfalls nicht erreicht werden, da von der SPÖ der ÖVP für deren Zustimmung, die Hauptschule durch die Neue Mittelschule zu ersetzen, der Weiterbestand der Langform der AHS zugesichert wurde.