Herausforderung der professionellen Unterrichtskompetenz: Bedarf das Erreichen der Lernziele der österreichischen Schulen des Nachhilfeunterrichts?

von Helmut Seel

Seit Jahren wird über das Problem des Nachhilfeunterrichts diskutiert. Die Arbeiterkammern einiger Bundesländer haben umfassende empirische Studien anstellen lassen. Das Ausmaß ist erschreckend hoch, Nachhilfe ist in nahezu allen Unterrichtsgegenständen und Schulstufen vorzufinden. Mit den beträchtlichen Kosten wird das öffentliche Schulsystem von privaten Staatsbürgern zusätzlich finanziert. So weit, so schlecht!

Das Bundesland Wien wird in Zukunft die Kosten der Nachhilfe für die Schule übernehmen. So lautete vor kurzem ein Beschluss der SPÖ Wien. Damit erhält das Nachhilfeproblem eine neue Dimension. Wird doch damit festgestellt, dass das öffentliche Schulwesen nicht in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen Es ist nicht in der Lage, die Schüler zu den Lernzielen zu führen, welche im Schulsystems
(in den Lehrplänen) vorgesehen sind.

Zugegeben: Der Schule wurden im Laufe der Zeit eine Reihe zusätzlicher Aufgaben zugewiesen. In den kürzlich abgeschossenen Dienstrechtsverhandlungen der Lehrer ist es thematisiert worden. Die Lehrer – vor allem die der höheren Schulen - fühlen sich für viele dieser neuen Funktionen nicht ausgebildet und verlangten tausende neue Mitarbeiter in den Schulen: Spezial- und Sozialpädagogen, Psychologen. Sozialarbeiter.

Damit stellt sich die Frage nach der professionellen Qualifikation der Lehrer: Es ist dies der Unterricht. Unterrichten bedeutet, Schüler zum Lernen anzuregen, ihre Lernprozesse zu unterstützen, Lernziele zu erreichen helfen und Lernergebnisse nachhaltig zu sichern. Lernvorgänge sind individuelle psychische Prozesse, die in unterschiedlichen Schritten und vor allem mit unterschiedlichem Zeitaufwand ablaufen. Es gibt aber zum Glück auch Ähnlichkeiten und Parallelitäten, die gemeinsames und gleichzeitiges Unterrichten mehrerer Schüler möglich machen.

Im Unterricht in der Schule wird leider oft auf das tatsächliche kontrollierte Durchführen der Aufgabenlösungen verzichtet und das Einprägen,
aber auch die ersten Transferschritte in die außerunterrichtliche Arbeitszeit des Schülers verlegt. Übersehen wird, dass es sich dabei um wesentliche Schritte des Lernprozesses handelt, die eine kompetente Unterstützung brauchen.

Fragt man Lehrer, warum sie den Unterrichtsprozess halbieren und sich mit der Stellung der Aufgabe oder des Problems und der Vorführung eines Lösungskonzepts begnügen, so weisen sie häufig auf die Stoff- und Aufgabenfülle der Lehrpläne hin. Man könne sie kaum „durchnehmen“. Dies kann nicht die Antwort eines professionell (d. h. wissenschaftsfundiert und klientenzentriert) agierenden Lehrers sein. Er müsste die real zur Verfügung stehende Unterrichtszeit für seine Klasse und die für die Erledigung der Lehrplanaufgaben fundiert geschätzte Lernzeit in Vergleich setzen.

Der professionell agierende Lehrer müsste den Lehrplan in Frage stellen. Und er würde darauf stoßen, dass die österreichischen Lehrpläne sehr häufig ohne Kalkulation des realen Lernzeitfaktors erstellt wurden.

Bei der aktuellen „Normalisierung“ der Nachhilfe ist der Aufschrei der Lehrer ausgeblieben. Hat man die Zielvorstellung guten Unterrichts bereits aufgegeben? Gefehlt hat auch der Protest der Lehrerbildung. Sieht man in der Vermittlung professioneller Unterrichtskompetenz kein Ausbildungsziel mehr?