Funktionsbezogene Neugestaltung der Grundschule!

von Helmut Seel

Nun haben die (vermeintlichen und wirklichen) Bildungsexperten endlich die Reformbedürftigkeit der Grundschule entdeckt. Das ist wichtig und richtig, hat aber den unangenehmen Beigeschmack der Flucht vor der Mittelstufenreform, der Integration der Schultypen der Sekundarstufe I. Leider wird dabei übersehen, dass das Hauptproblem der Grundschule in der Selektion für die Schultypen der Sekundarstufe I liegt. Nicht „alle alles zu lehren“ (Comenius) steht im Vordergrund, sondern die besondere Unterstützung der zukünftigen AHS-Schüler leitet die Volksschullehrer, häufig auch unter dem Druck der Eltern aus der traditionellen Bildungsschicht. Das Defizit in der Lesefertigkeit einer beachtlich großen Schülergruppe, das in den PISA-Tests festgestellt wird, ist bereits am Ende der Grundschule erkennbar.
Auf dieser Website wurde schon wiederholt auf die Reformbedürftigkeit der Volksschule hingewiesen. Zur Erinnerung:
Helmut Seel: „Funktionsbezogene Neugestaltung der Grundschule“ (2012) und
Helmut Seel: „Umgestaltung der Grundschule – eine Herausforderung der Bildungspolitik und Bildungswissenschaft“ (2008)

Helmut Seel

Funktionsbezogene Neugestaltung der Grundschule!

Es ist schon bemerkenswert: Im Nationalen Bildungsbericht 2009 wird der Volksschule (Grundschule) bei der Vorstellung der Stufen des österreichischen Bildungssystems mit ihren spezifischen Problemen kein Platz eingeräumt, obwohl doch auf Grund der Auslesefunktion für ein differenziertes Mittelstufen-Schulsystem eine Fülle spezifischer Belastungen der Volksschule wahrzunehmen ist. Es bewahrheitet sich offenbar die Mär von der „guten Volksschule“, welche auch durch Schulversuche, die 1971 eingerichtet worden waren, aber zu keiner Einführung in das Regelschulsystem führten, beeinträchtigt werden konnte.

Die neue Lehrerausbildung revolutioniert vor allem den Bereich der Primarschul-Lehrerbildung. Die Erweiterung der Studienzeit auf das Doppelte schafft bedeutende qualitative und quantitative Ausbildungsmöglichkeiten in den neuen Curricula. Erkennbare Ausbildungsdefizite können behoben werden, welche in einigen Beiträgen im Nationalen Bildungsbericht 2012 angeführt werden. Sowohl von Seiten der Fachdidaktik des Deutsch- als auch des Mathematikunterrichts (vgl. Krainer et al.; „Fachdidaktik und ihr Beitrag zur Qualitätsentwicklung des Unterricht“, Nationaler Bildungsbericht 2012) wird auf bestehende Mängel hingewiesen. Insbesondere bezüglich der Fragen des elementaren Leseunterrichts werden Lücken in der Ausbildung festgestellt (vgl. Schabmann et al.: „Lesekompetenz , Leseunterricht und Leseförderung im österreichischen Schulsystem“, Nationaler Bildungsbericht 2012). Zweifellos herrschen auch in diesem Bereich eine Vielfalt von subjektiven Theorien der Lehrer, aber sie sollten doch auf wissenschaftlich gesichertem Wissen über Vor- und Nachteile etwa von synthetischer oder analytischer Vorgangsweise, hinsichtlich der Wahl der Ausgangsschrift oder bezüglich der Verbindung von Lese- und Schreibunterricht aufbauen. Solches Wissen wird offensichtlich in der derzeitigen Volksschullehrerausbildung nicht zureichend vermittelt. Schabmann et al. weisen darauf hin, dass sich „von insgesamt 295 erfassten Modulen der Volksschullehrerausbildung an den Pädagogischen Hochschulen sich nur 13 (4%) – bei sehr großzügiger Auslegung – mit den Grundlagen des Lesens bzw. des Lesenlernen auseinandersetzten“. In dem die Ausbildung abschließenden Master-Studium wird man außerdem eine umfassende Einführung in die Systematik und Forschungsmethodik der für die Lehrerbildung relevanten wissenschaftlichen Disziplinen vorsehen müssen, soll ein Übertritt in ein einschlägiges universitäres Doktoratsstudium gesichert werden und der Grad des Masters of Education (MEd) nicht eine Graduierung zweiter Klasse sein soll.

Zweifellos ist die hochschuldidaktische Neugestaltung der Primarschul-Lehrerbildung ein zentrales Anliegen. Es sollte jedoch auch über die Chancen der Neugestaltung der Organisationsform der Volksschule (Grundschule) nachgedacht und die traditionelle Rolle des Primarschullehrers als Klassenlehrer in einer Schulstufen-Klasse hinterfragt werden. Das Schulorganisationsgesetz (SchOG) § 11 gliedert den Bereich der vier Grundschulstufen in eine Grundstufe I (1. und 2. Schulstufe und allenfalls Vorschulstufe) und eine Grundstufe II (3. und 4. Schulstufe).

Das zentrale Problem der Grundstufe I ist der Schulanfang. Auf Grund der Bestimmungen des Schulpflichtgesetzes wird mit Stichtag 1. September jeweils ein Schülerjahrgang rekrutiert. Für die Alterstufe der Sechs- bis Siebenjährigen ist der Entwicklungsspielraum eines Jahres enorm groß und damit auch die Möglichkeit, den Ansprüchen der Schule in körperlicher, kognitiver, sprachlicher und sozialer Hinsicht zu genügen oder an ihnen zu scheitern. Dem versuchte man durch zwei Maßnahmen entgegenzuwirken: Einführung einer Vorschulstufe für schulpflichtige, aber nicht schulreife Kinder (um eine Rückstellung vom Schulbesuch zu vermeiden und zusätzliche Lernzeit zu gewinnen) und Zusammenfassung der 1. und 2. Schulstufe zu einer Beurteilungseinheit (um altersbedingten Lernschwierigkeiten im ersten Schuljahr Rechnung zu tragen).

Durch die Bestimmungen in § 12 Abs. 2 Z 2 SchOG und § 25 Abs 8a Schulunterrichtsgesetz (SchUG) wurde die Möglichkeit geschaffen, eine Schuleingangsstufe einzurichten, in der Schüler der I. und der 2. Schulstufe und der Vorschulstufe gemeinsam unterrichtet werden. Der Klassenverband umfasst drei Schulstufen, in ihn werden jedes Jahr alle schulpflichtigen Kinder des Einzugsbereichs ohne Rücksichtnahme auf die Schulreife aufgenommen. Die Schuleingangstufe kann in zwei oder drei Schuljahren absolviert werden. je nachdem wie lange die Schüler brauchen, um das Bildungsziel der 2. Schulstufe zu erreichen. Unter Anwendung von § 26 SchUG kann die Schuleingangsstufe auch in einem Schuljahr durchlaufen werden. Um die Klassenschülerzahl stabil zu halten, werden zu Beginn eines Schuljahrs so viele Schulanfänger in die Eingangstufe aufgenommen, wie in die 3. Schulstufe übergetreten sind. Im Bedarfsfall werden parallel geführte Eingangsstufenklassen eingerichtet. In der Schuleingangsstufe unterrichten jeweils zwei Lehrer, eventuell ergänzt durch einen Lehrer für Kinder mit sonderpädagogischem Forderbedarf.

Die unterschiedliche Verweildauer in der Eingangsstufe wird nicht in gleicher Form als Versagen erlebt wie etwa die Verweigerung des normalen Schuleintritts in die 1. Schulstufe oder eine Schulstufenwiederholung in der Grundstufe I. Die Schuleingangsstufe ist eine aus pädagogischen Gründen eingerichtete Mehrstufenklasse. Sie ist ein wesentliches Gestaltungsprinzip der Jenaplan-Schule des Reformpädagogen Peter Petersen. Die Altersstreuung verstärkt die Möglichkeit des wirkungsvollen Lernens der Schüler voneinander, Leistungsvorsprünge verstärken durch die Vorbildwirkung die Lernmotivation und ermöglichen gegenseitige Hilfestellung. In ihrem sozialen Selbstverständnis erleben die Schüler, wie sie aus der Rolle des hilfebedürftigen Neulings in die des erfahrenen Könners und Helfers hineinwachsen. Der frontale Einheitsunterricht kann weitgehend durch Kleingruppenarbeit in wechselnder Zusammensetzung ersetzt werden.

Neu zu schaffen ist eine geeignete Organisationsstruktur für die Grundstufe II. Hier ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass für absehbare Zeit die vertikale Struktur des Schulsystems durch zwei parallele Schularten in der Sekundarstufe I bestehen bleiben wird. Die Grundstufe II ist daher weiterhin wesentlich geprägt durch die am Ende der 4. Schulstufe notwendige Schullaufbahnentscheidung, welche durch die erzielten Schulleistungen bestimmt werden soll: Übertrittsberechtigung in die AHS-Unterstufe mit mindestens der Note „Gut“ in Deutsch und Mathematik. Die Unzuverlässigkeit der Schulnoten hinsichtlich der effektiven Leistungen ist hinreichend bekannt. Bruneforth et al. („Chancengleichheit und garantiertes Bildungsminimum in Österreich“, Nationaler Bildungsbericht 2012) wiesen faktorenanalytisch nach, dass der sozio-ökonomische Status des Elternhauses den wichtigsten Faktor für den AHS-Eintritt darstellt. Unter dem Druck der Eltern kümmern sich die Lehrer vor allem um die leistungsstärkeren Schüler, die unterstützungsbedürftigen werden oft vernachlässigt.

Die Probleme können nur durch ein Zweilehrersystem (Team Teaching) im Deutsch- und Mathematikunterricht gelöst werden. Dadurch wird eine differenziertere Förderung der Schüler möglich, und die Leistungsbeurteilung wird objektiviert, wenn sie von zwei Lehrern vorgenommen wird. Für jeweils zwei Klassen (aufsteigend oder parallel geführt) muss ein Assistenzlehrer in Deutsch und Mathematik zur Verfügung stehen. Für die 3. und 4. Schulstufe ist das Zweilehrersystem unter den gegebenen Bedingungen wichtiger als in der Neuen Mittelschule. Ein Ziel des Team Teaching in der Mittelschule ist die notwenige Differenzierung und Individualisierung der Lernhilfen zur Sicherung der Übertrittsberechtigung in die Oberstufe der höheren Schulen. Dieser zweite „Verteilerkreis“ des Schulsystems ist für die Bildungschancengerechtigkeit in Österreich ganz wesentlich, er stellt jedoch die zweite Chance des Zugangs zu den höheren Schulen dar. Die erste Chance ist der Übertritt in die Unterstufe der höheren Schulen nach dem Abschluss der 4. Grundschulklasse. Die Erfüllung dieser Aufgabe muss daher mindestens die gleiche Beachtung und Unterstützung finden. Die Volksschule ist schulorganisatorisch eine Gesamtschule, in der jeweils der gesamte Schülerjahrgang mit seiner Streuung in der Lernbefähigung zu unterrichten ist.

Es ist im Übrigen daran zu erinnern, dass das Zweilehrersystem in der Neuen Mittelschule eigentlich als Maßnahme der Differenzierung in einer Gesamtschule gedacht war, so wie vorher das Leistungsgruppensystem der Hauptschule. Eine Gesamtschulfunktion haben diese Schulen aber nur in AHS-fernen Gebieten zu erfüllen, wo nahezu die gesamte Schülerpopulation aus der Volksschule übertritt. Nur bei einer Gesamtschulstruktur in der Sekundarstufe I würde diese den Selektionsprozess zu leisten haben und die Grundschule von der verfrühten Schullaufbahnentscheidung entlasten.