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Zur Bildungsrevolution der Industriellenvereinigung

von Helmut Seel
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Der Plan der Industriellenvereinigung (IV) zur Reform des österreichischen Schulsystems hat Diskussionen ausgelöst. So wurden im „Standard“ durchaus unterschiedliche Bewertungen veröffentlicht: Zustimmung bei C. Seidl (20. 1. „Eine Chance für die Einheitsschule“), Ablehnung bei St. Hopman (24. 11. „Bildung im Baukastensystem ändert nichts“).  Ob „der Vorschlag  der IV zur Reform  des Bildungswesens nichts zur Verbesserung der hiesigen Verhältnisse beiträgt“, sollte jedoch hinterfragt werden. Der Vorwurf, bestimmte Teile der Schulsysteme, aus denen von der IV Teile entnommen werden, seien nicht wissenschaftlich abgesichert, übersieht wohl die Traditionen, welche ihnen zugrunde liegen. Sie wurden einstmals durch politische Entscheidungen ohne wissenschaftliche Grundlagen eingerichtet, haben sich bewährt und blieben daher bis in die Gegenart bestehen.  Erst bei Veränderungsabsichten wird mit wissenschaftlichen Befunden argumentiert. Reformen bleiben aber trotzdem politische Entscheidungen, welche oftmals den wissenschaftlichen Vorschlägen nicht folgen.

Zum Baustein eins: Die Einschulung der Fünf jährigen  hat beispielweise sowohl in Frankreich (Ecole Maternelle) als auch in England (Infant School) eine solche Tradition und wird dort keineswegs in Frage gestellt. Der Unterschied zum österreichischen Kindergarten,  der weitgehend noch den Ideen F. Fröbels verpflichtet ist, ist zweifellos bedeutend. Auch die angeführte wissenschaftlich ungesicherte Vorverlegung des Schulbeginns um ein Jahr in Norwegen als bildungspolitische  Entscheidung ist durch Traditionen legitimiert: Die Verschiebung des Schulbeginns vom 7. (in den skandinavischen Ländern üblich) zum 6. Lebensjahr (wie in vielen anderen europäischen Staaten ohne wissenschaftliche Begründung eingerichtet) folgt wohl dieser Logik.

Der zweite Baustein, die gemeinsame Schule für die Fünf- bis Vierzehnjährigen, modifiziert die Idee der in den skandinavischen Staaten üblichen „Grundschule“, die dort jedoch die Sieben- bis Sechzehnjährigen  umfasst. In dieser „Grundschule“ sind die nach der UNESCO unterschiedenen Schulformen der Primarstufe („Level 1“) und der Sekundarstufe I („Level 2“) integriert.  Beiden Stufen sind unterschiedliche Aufgaben im Rahmen des gesamten Schulsystems zugeordnet.

Die Oberstufe (Sekundarstufe II, UNESCO-Level 3) bleibt als Baustein drei des Systems der IV österreichisch (Differenzierung in berufsbildende mittlere und höhere Schulen, Oberstufe des Gymnasiums sowie Berufsschule plus Lehre). Der Vorwurf Hopmans, dass es rätselhaft bleibe, warum sich  die IV „überwiegend in Ländern bedient, die weitaus größere Probleme im Übergang von der Schule zum Arbeitsmarkt haben als Österreich“, geht damit ins Leere. Was Hopman  aber nicht sieht, ist, dass das fragwürdige Interesse der IV für die Einschulung der Fünfjährigen wohl dort seine Begründung hat. Es geht um die Beendigung der Unterrichtspflicht mit dem 14. Lebensjahr, damit dem Übergang in das Lehrverhältnis  keine arbeitsrechtlichen Beschränkungen  entgegenstehen (das Lehrverhältnis ist ein Arbeitsverhältnis). Der Polytechnische Lehrgang, der seine Erfindung 1962 der Tatsache zu verdanken hat, dass man das neue 9. Jahr der Unterrichtspflicht nicht mit der traditionellen Schulorganisation harmonisieren konnte, wird damit verzichtbar.

Der Kern des IV-Vorschlags, die schulorganisatorische Integration im Bereich der Mittelstufe des Schulsystems, wird bei Hopman im Unterschied zu Seidl nicht präzisiert. Dies ist jedoch das Schlüsselproblem der Schulreform in Österreich. Gerade hierzu liegen internationale und auch österreichische wissenschaftliche Befunde vor, welche gegen  eine Schultypengliederung sprechen. Nach den als erfolgreich evaluierten Schulversuchen von 1971 bis 1983 verhinderte jedoch die Politik die wissenschaftlich legitimierte Entscheidung für die Gesamtschule in Österreich.

Die unterschiedlichen Aufgaben der Primarstufe und der Sekundarstufe I  im Schulsystem sprechen für eine schulorganisatorische Differenzierung der Bereiche.  So hat die Volksschule (Primarstufenschule) im österreichischen Schulorganisationsgesetz (SchOG) die Aufgabe, allen Schülern eine gemeinsame Elementarbildung zu vermitteln, einen Selektionsauftrag hat sie im SchOG nicht. Der wurde ihr erst als Ersatz der 1971 aufgehobenen Aufnahmeprüfung in die AHS zugeschoben, als der prüfungsfreie Übertritt an die Beurteilung  am Ende der 4. Schulstufe gekoppelt wurde.  Erst der Mittelstufenschule (Hauptschule, Neue Mittelschule) wird im SchOG eine schulleistungsbezogene  Auswahlaufgabe zugeordnet  Die Befürchtung Hopmans, dass in der neunklassigen Einheitsschule der IV der Beginn des Selektionsprozesses bereits zu den Fünfjährigen geschoben würde, besteht zu Recht.

Nur durch eine Gesamtschulstruktur der Mittelstufenschule, in welche alle Schüler ohne Berücksichtigung beurteilter Leistungen aus der 4. Volksschulklasse übertreten, könnte die Selektionsaufgabe der Volksschule (Primarstufe) genommen und der Mittelstufe des Schulsystems zugeordnet werden. Sie könnte dort im Hinblick auf definierte Schulleistungen als Voraussetzung für den Übertritt in verschiedene Formen der Oberstufenschulen als flexibler und transparenter Prozess gestaltet werden. Das Erreichen des Bildungsminimums (Bundesverfassungsgesetz Artikel 14, Abs. 14a: „ „Jeder Jugendliche soll befähigt werden, am Kultur- und Wirtschaftsleben Österreichs , Europas und der ganzen Welt teilzunehmen“.  Vgl.  Bruneforth et al. „Chancengleichheit und garantiertes Bildungsminimum in Österreich“, Nationaler Bildungsbericht 2012)  als „mittlere Reife“ zu benennen, könnte Sinn machen. Es ist im Konzept der IV allerdings unklar, ob damit nicht das Erreichen des Leistungsniveaus für den Übertritt in höhere Oberstufenschulen gemeint ist.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Mittelstufenschule als Gesamtschule neben der Selektion auch andere Aufgaben zu erfüllen in der Lage ist:

-          die Sicherung einer allgemeinen Grundbildung als Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in persönlichen und gesellschaftlichen Problemlagen auf  der Grundlage ihrer Lernfelder (Fächer) und Anspruchsebenen am Ende der Zeit der Unterrichtspflicht;

-          die Erfüllung sozial-integrativer  Aufgaben der Schule als Entwicklung eines sozialschichtenübergreifenden Verständnisses im Hinblick auf das Zusammenleben in einer demokratisch verfassten  Gesellschaft mit gleichen Rechten und Pflichten aller Bürger;

-          die Verbesserung der Bildungschancen der Heranwachsenden aus bisher regional und/oder sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen auf Grund eines einheitlichen Schulangebots an allen Schulstandorten.

C, Seidl macht noch auf einen anderen Gesichtspunkt für die Vereinheitlichung der Mittelstufe des Schulsystems aufmerksam: Die „Einheitsschule“ entspräche der Vereinheitlichung der neuen Lehrerausbildung für alle Sekundarlehrer von der 5. bis zur 13. Schulstufe. Ob letzteres allerdings ein gutes Argument ist, darf hinterfragt werden. Die neue Sekundarstufenlehrerausbildung ist wohl eher ein bildungspolitisch begründetes Verlegenheitsprodukt, da die ÖVP einer Ausbildung spezifischer Mittelstufenlehrer als Gefährdung der „heiligen Kuh der Langform der AHS“ betrachtete und ablehnte. Allerdings: Der „Einheitsschule“ der IV könnte ein „Einheitslehrer“ entsprechen. Er würde sich jedoch auf die Schulstufen 1 bis 9 beziehen, nicht auf die Schulstufen 5 bis 13. Und darüber könnte man durchaus reden.