Schulautonomie ist keine Lösung der Mittelstufenproblematik des Schulsystems

von Helmut Seel

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist sogar zu beachten, dass die vorliegenden Daten der ersten und zweiten Versuchskohorte bessere Ergebnisse aufweisen, als sie von den folgenden Kohotten, den Schulen, die erst in den Schuljahren 2013/14 und 2014 /15 als „Neue Mittelschulen“ gemäß § 21a des Schulorganisationsgesetzes geführt werden, zu erwarten sind. Die meisten der 2012/13 als „Neue Mittelschulen“ eingerichteten Schulen hatten sich bereits vorher an den Schulversuchen zu dieser neuen Schulart in Bundesländermodellen beteiligt und Erfahrungen gesammelt. Die an der Evaluation beteiligten Schulen stellen daher keine repäsentative Stichprobe der gesamten „Neuen Mittelschule“ im Sinne experimenteller Forschung dar.

Die nachträgliche Rechtferigung der bildungspolitischen Entscheidung der Unterrichtsministerin Dr. Schmied ist misslungen. Ihre Entscheidung, die Hauptscbule durch die „Neue Mittelschule“ zu ersetzen, erfolgte ohne „Evidenzbasierung“ (F. Eder) und ohne Diskussion der Bundesländer-Varianten des Schulversuchs. Sie sollte ihr einen ihr einen raschen bildungspolitischen Erfolg bescheren. Der Preis dafür war aus sozialdemokratischer Sicht nicht zu rechtfertigen: Zusicherung an die ÖVP zum weiteren Bestand der AHS-Unterstufe neben der „Neuen Mittelschule“. Dieser Gesichtspunkt ist wohl die Grundlage der veränderten Meinung der ÖVP zur „Neuen Mittelschule“. Vor einigen Wochen noch drohte man mit ihrer Abschaffung, sollte sie sich nicht bewähren (Klubobmann Lopatka), nun ist man für ihren Weiterbestand (Staatssekretär Mader). Man weiß, dass diese „Neue Mittelschule“ keine Bedrohung für den Bestand der AHS-Unterstufe darstellt

An dieser Stelle muss wohl auch noch einmal klar gemacht werden, warum die SPÖ für eine integrierte Mittelstufenschule eintritt: Sie ist die Voraussetzung der Bildungschancengerechtigkeit des Schulsystems. In ihr muss die differenzierte Vorbereitung auf die unterschiedlichen Schularten des Oberstufenbereichs erfolgen, und sie muss dazu auf Grund unterschiedlicher Interessen und Leistungsbefähigungen der Schüler in transparenter Weise die unterschiedlichen Berechtigungen verleihen. Nur so erhalten lernbefähigte Kinder, deren Eltern wenig oder kein Verständnis für und Möglichkeit zu einer besonderen Förderung der schulischen Laufbahn ihrer Kinder haben, ihre Bildungschance.

Die Volksschule (Grundschule) ist hingegen von der Selektionsfunktion zu entlasten. Nur dann kann eine Reform der Volksschzule, die gemäß Schulorganisationsgesetz eine „gemeinsame Elementarbildung für alle Schüler“ (vgl. § 9 SchOG) zu vermitteln hat, gelingen. So lange die Grundschule die Berechtigungen für den Eintritt in die AHS-Unterstufe zu verleihen hat, führt dies zur Vernachlässigung der tatsächlich oder vermeintlich schlechteren Schüler. Die Mängel in den Leistungen im Lesen und in der Mathematik, welche in den PISA-Tests bei den Sechzehnjährigen festgestellt wurden, zeichnen sich bereits am Ende der Grundschule bei den Zehnjährigen ab.

Ein zweiter wichtiger bildungspolitischer Grund, der für eine gemeinsame Schule aller Zehn- bis Vierzehnjährigen spricht, ist die Förderung der gesellschaftlichen Integration. Im Zusammenleben der Heranwachsenden aus allen gesellschaftlichen Schichten und Bereichen kann die Heranbildung gleichberechtigter Bürger eines demokratisch verfassten Staates erfolgen.

Die Schulgeschichte zeigt die verschiedenen Schritte der Verbindung der Ziele der Integration und Selektion im Mittelstufenbereich: die zwei Klassenzüge der Hauptschule bei ihrer Gründung 1927, die Verbindung von leistungsheterogenen Stammklassen und Leistungsgruppen in den Fächern, in denen besondere Lernvoraussetzungen für den Oberstufenbereich zu schaffen sind, in der reformierten Hauptschule ab 1983. In der „Neuen Mittelschule“ ist die Gestaltung der Selektionsfunktion nicht gelungen. Die individuelle Förderung der unterschiedlichen Leistungsbefähigungen in den heterogen zusammengesetzten Klassenverbänden überfordert viele Lehrer sogar im Team Teavhing-Verfahren. Das zeigen die schlechteren Leistungen der leistungsschwächeren Schüler im Vergleich zur Hauptschule. Aber auch die Identifikation der Schüler, welche eine „vertiefte Allgemeinbildung“ (§ 21b SchOG) und damit eine Übertrittsberechtigung in die höheren Schulen des Oberstufenbereichs erreichen, weist deutliche Unsicherheiten auf. Damit wird auch die Erfolgsmeldung, die „Neue Mittelschule“ führe mehr Schüler zu dieser Übertrtittsberechtigung, fragwürdig. Rückmeldungen aus dem berufsbildenden höheren Schulen bestätigen das.

Eine Folge des Versagens der „Neuen Mittelschule“ als Gesamtschule für den Mitttelstufenbereich kann daher aus sozialdemokratischer Sicht nur die Entwicklung einer veränderten Organisationsform sein. Dabei ist an die Organisationsstruktur des Wiener Modells der „Neuen Mittelchule“ zu erinnern, welche lehrplangemäß zwei Drittel der Zeit für die Grundstoffvermittlung in der Stammklasse und ein Drittel der Zeit für die differenzierten Aufgaben der Übung des Grundstoffes bzw. für dessen Vertiefung und Erweiterung in parallel geführten Gruppen verwendete. Die Übertrittsberechtigungen wurden an die Absolvierung des Unterrichts in der Erweiterungsgruppe gebunden.

Die Reaktion der Unterrichtsministerin Heinisch-Hosek iin dieser Situation ist hingegen fragwürdig. Sie flüchtet in die Autonomisierung der Schulen, will ihnen teilweise die Lehrplangestaltung überlassen und die Bindung der Zusatzstunden an die Leistungsdifferenzierung in den Sprachen und in der Mathematik aufheben. Der Ressortleiter für das Schulsystem in der Regierung delegiert damit die Verantwortung für die Schulorganisation an die Schulen, welche dann auch ein Versagen der Schüler in den Bildungsstandard-Prüfungen zu rechtfertigen hätten. Auf Grund der Unterschiedlichkeit der Organisation würde man wohl auch die Übertrittsberechtigumgen an die Ergebnisse in diesen Tests binden müssen.

Da in diesem Fall der Autonomisierung zu erwarten ist, dass zur Sicherstellung einer gewissen Vergleichbarkeit der Schulen die neuen Bildungsdirektionen der Bundesländer eingreifen und gewisse Regulierungen vornehmen würden, könnte eine „Verländerung“ des Mittelstufenbereichs nicht zu vermeiden sein. Diese Entwicklung kann wohl nicht im Interesse einer sozialdemokratischen Bildungspolitik sein.