Die Evaluation der Neuen Mittelschule hat noch nicht stattgefunden!

von Helmut Seel

Für die Diskussion schulpolitischer Themen ist die Kurzlebigkeit der Probleme in der Öffentlichkeit typisch. So wurde die Diskussion über die Evaluation der Neuen Mittelschule bereits von den Ereignissen der Zentralmatura überlagert.  Man sollte aber noch einmal zur Neuen Mittelschule zurückkehren, denn ihre Evaluation erfolgte durch die vorliegende Untersuchung noch keinesfalls. Darauf weist auch der Untertitel des Untersuchungsberichts hin: „Befunde aus den Anfangskohorten“. Es handelt sich also eigentlich um eine Evaluation der Schulversuche gem. § 7a SchOG in seiner ersten Fassung 2008.

Diese Evaluation war bereits von E. Svecnik in seinem Beitrag „Die bundesweite Evalution der Neuen Mittelschule“ im einschlägigen Themenheft  8 – 10/2012 der Zeitschrift „Erziehung und Unterricht“ thematisiert worden.  Er weist mit Problembewusstsein  („Die Entwicklung der Erfolgskriterien für die Evaluation gestaltete sich aufwändig. Da die Zielsetzung in der Neuen Mittelschule nicht explizit in legistischen Dokumenten und Publikationen vorgelegt worden war – es handelte sich vielmehr um einen Maßnahmenkatalog, der den Bundesändern, Regionen und Schulen viele Möglichkeiten einräumten“,  S. 819)  auf die Schwierigkeit einer tatsächlichen summativen Evaluation (insbesondere der Überprüfung der Schülerkompetenzen in der Neuen Mittelschule im Vergleich zur abzuschaffenden Hauptschule) hin. Eine Begriffsklärung erscheint sinnvoll: In der Hauptschule wurden die Schüler in drei fachspezifische Leistungsniveaus eingeteilt, in welchen die übliche Leistungsbeurteilung stattgefunden hat. Im Normalfall wurde für jede Leistungsebene eine eigene Leistungsgruppe eingerichtet werden. Es konnten aber auch in einer Leistungsgruppe mehrere Niveaugruppen zusammengefasst werden.  Die obere Niveaugruppe wurde als I. Leistungsgruppe bezeichnet. Es ist daher zu beachten, dass der Verzicht auf die Einrichtung von Leistungsgruppen noch nicht die Einteilung der Schüler in die Leistungsniveauebenen aufhebt.

Dieses Evaluationsvorhaben wurde 2011 nach der politischen Entscheidung über die  generelle Einführung der Neuen Mittelschule an Stelle der Hauptschule abgebrochen (F. Eder, ÖFEB-Tagung 2011: „Die Evaluation, die keiner wollte – Rezeption und Verwertung eines obsolet gewordenen Projekts“. Feststellung: „Die Einrichtung der  Neuen Mittelschule erfolgte wenig evidenzbasiert und zumindest ohne expliziten Bezug auf die Evaluierung des Bestehenden“), aber 2012 erneut aufgenommen. § 7a SchOG wurde novelliert und betrifft  nunmehr die versuchsweise Einführung des Konzepts der Neuen Mittelschule in der AHS-Unterstufe. Eine zentral erstellte Organisationsform der Neuen Mittelchule wurde im SchOG § 21a ff. verbindlich eingeführt. Die im Schulversuch entwickelten Ländermodelle wurden nicht berücksichtigt, was insbesondere in Wien zu Problemen zwischen Ministerium und Stadtschulrat führte. Als Maßnahme der Leistungsdifferenzierung werden in der 3. und 4. Klasse die Schüler der Leistungsebene der grundlegenden oder der vertieften Allgemeinbildung zugeordnet und beurteilt. Die Regelungen der Leistungsbeurteilung wurden in § 18 SchUG getroffen.

Zu beachten ist jedenfalls das Ziel der Evaluation. Im Unterschied zur ursprünglichen Evaluierung gem. § 7a in der Fassung 2008 oder der Evaluation der Schulversuche mit der Gesamtschule 1971 – 1983 handelt es sich nun nicht darum, Grundlagen für eine schulpolitische Entscheidungsfindung  bereitzustellen, sondern um  eine Rechtfertigung einer bereits getroffenen schulpolitischen Entscheidung, nämlich der Einführung der Neuen Mittelschule an Stelle der Hauptschule.

Auf folgende Schwachstellen im Konzept der vorliegenden bundesweiten Evaluation der Neuen Mittelschule ist hinzuweisen:

-          Die Schülergenerationen der Versuchsgruppe (Schüler des Schulversuchs „Neue Mittelschule“ in der 5. Schulstufe 2008/2009 bzw. 2009/2010) sind bezüglich der tatsächlichen Schulorganisation (insbesondere in den Formen der Leistungsdifferenzierung und der Leistungsbeurteilung)  nicht homogen. Aus der Palette der Varianten des Schulversuchs sollen nur zwei herausgegriffen werden. In der Mittelschule Vorarlberg wurde an der Einstufung der Schüler in die drei Leistungsniveaus der Hauptschule festgehalten, und nur die Schüler des obersten Leistungsniveaus erhielten ein Zeugnis der Mittelschule.  Oder: Die Wiener Mittelschule hat eine spezifische schulorganisatorische äußere Leistungsdifferenzierung durch die Führung  von Leistungs- bzw. Übungskursen als Ergänzung der für alle Schüler verbindlichen Grundkurse in Deutsch, Englisch und Mathematik entwickelt. Dies wird mit der Gliederung des Lehrplans in Grund- und Erweiterungsstoffe begründet. Weiters: In nahezu allen Bundesländermodellen hatten die Eltern die Möglichkeit, zur Abwendung einer negativen Beurteilung und Schulstufenwiederholung in den nach dem Lehrplan der AHS geführten Versuchsschulen für die Leistungsbeurteilung die leistungsgruppenbezogenen Normen der Hauptschule zu wählen. Die unterschiedlichen Schulversuchsvarianten wurden jedoch im Vergleich nicht evaluiert. Für die Evaluationsuntersuchung zur generellen Einführung der Neuen Mittelschule gem. § 21a SchOG ist daher die 1. Klasse (5. Schulstufe) der Versuchsschulen der Schuljahre 2008/09 bzw. 2009/10  als Versuchsgruppe untauglich. Die auch von E. Svecnik konzipierte „Schlussuntersuchung“ am Ende des Schuljahrs 2012/13 könnte vielmehr nur zu einer nachträglichen vergleichenden Beurteilung der Schulversuchsmodelle der Bundesländer dienen. Die Ergebnisse der für 2012 vorgesehenen „Erhebung der standortspezifischen Modellrealisierungen“ könnten dazu herangezogen werden.

-          Als Versuchsgruppe für eine summative Evaluation (Vergleich des Kompetenzenerwerbs in D, E, M zwischen der Neuen Mittelschule und der traditionellen Hauptschule) der Einführung der Neuen Mittelschule kann nur der der Schülerjahrgang der 1. Klasse der Neuen Mittelschulen im Schuljahr 2012/13 bzw. 2013/14 dienen, welcher bereits nach der einheitlichen Organisationsform der Neuen Mittelschule (Novellierung der SchOG § 21a-h, § 40 Abs. 2a, § 68 Abs.4), dem Lehrplan der Neuen Mittelschule und den darauf bezogenen Regelungen der Leistungsbeurteilung (Novellierung der SchUG § 18 Abs. 2a) geführt werden. Sollte man an Stelle einer Gesamterhebung eine Stichprobenuntersuchung vornehmen, so dürfte diese Stichprobe nicht nur aus den Versuchsschulen bestehen, sondern auch „Startschulen“ umfassen. Zu kontrollieren wäre bei einer Stichprobenplanung neben dem Verhältnis von Versuchsschulen und „Startschulen“ auch die Variable der regionalen Übergangsquoten in die AHS-Unterstufe.  Die Schlussuntersuchungen  könnten dann 2015/16 bzw. 2016/17 erfolgen. 

-          Besondere Beachtung sollte man  der Schülergruppe schenken, welcher die Berechtigung zum prüfungsfreien Übertritt in die AHS-Oberstufe bzw. BHS zuerkannt wird. Sie wäre im Vergleich nach quantitativen und qualitativen Kriterien zu charakterisieren. Erfolgsmeldungen bezüglich der Erhöhung der Übergangsberechtigungen sollte mit Vorsicht betrachtet werden. Sie können durchaus mit den veränderten Regelungen der Zuerkennung erklärt werden.  Lehrer der berufsbildenden höheren Schulen klagen jedenfalls über geringere Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Absolventen der Neuen Mittelschule im Vergleich mit den übertrittsberechtigten Hauptschülern. 

Der genauen Untersuchung der Ergebnisse im Kompetenzenerwerb in der Neuen Mittelschule einerseits und der Hauptschule mit Leistungsniveaudifferenzierung  in der Form fachspezifischer Leistungsgruppen andererseits kommt aus mehreren Gründen große Bedeutung zu. Der erste Grund ist sicher der Beitrag zur intendierten Rechtfertigung der Einführung der Neuen Mittelschule. Ein anderer besteht darin, dass sich einige ÖVP-Politiker für die Einführung einer Gesamtschule  für die Sekundarstufe I ausgesprochen haben, wenn diese eine transparente Leistungsdifferenzierung aufweisen würde. Dafür wären die Leistungen der Hauptschule interessant.

Eine Weiterentwicklung der Neuen Mittelschule sollte sich am Lehrplan orientieren. Dort werden die Lehrinhalte in Kernstoffe (für ihre Behandlung sind zwei Drittel der verfügbaren Unterrichtszeit zu verwenden) und Erweiterungsstoffe gegliedert. In einer gemeinsamen Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen könnte dementsprechend die Bearbeitung des Kernstoffs in den heterogen zusammengesetzten Stammklassen erfolgen, ergänzt durch Erweiterungs- bzw. Übungskurse, die entsprechend der unterschiedlichen Lernbefähigung besucht werden. Die obere Leistungsebene (vertiefte Allgemeinbildung), an welche die Berechtigung zum prüfungsfreien Übertritt in die Oberstufe der höheren Schulen gebunden ist, wird durch die kontinuierliche Zugehörigkeit zu den Leistungskursen definiert.  Wenig Sinn macht es, wenn in beiden Ebenen der Allgemeinbildung Kern- und Erweiterungsstoffe zu berücksichtigen sind, die sich im Komplexitätsgrad zu unterscheiden haben. Dieser Lehrplanvorgabe können die Lehrer in der Praxis des Klassenverbandsunterrichts nicht entsprechen.

H.S.