Fragwürdige Zufriedenheit – Vom Fehlen sozialdemokratischer Akzente in der Bildungspolitik


Die Unterrichtsministerin zeigte sich bei der Präsentation der Ergebnisse der Bildungsstandardtests im Lesen  auf der 4. Schulstufe darüber erfreut, dass sich die Werte geringfügig verbessert hätten. Dabei erreichen noch immer 25% der Schüler die Lernziele im Lesen nur teilweise und 13 % erreichen sie gar nicht. In der Mittelstufe lässt sich dieses Defizit  nicht mehr aufholen und wird daher in den PISA-Tests bei den Sechzehnjährigen jedes Mal aufgewiesen. Von Seiten der Erziehungswissenschaft wurde das Ergebnis mit Recht als skandalös kritisiert. Und auch die Presse zeigt sich überrascht: „Leseschwäche beunruhigt Ministerin kaum“ titelt beispielweise der STANDARD am 1. April. Für die schlechten Ergebnisse sind nur zum Teil die Migrationsfolgen verantwortlich: 32 % der Leistungsschwachen sind Schüler ohne Migrationshintergrund.

Zweifellos ist an diesem Misserfolg die Schulorganisation der Volksschule verantwortlich. Das Klassenlehrer-System ist überholt. Es lässt eine notwendige Individualisierung des Unterrichts nicht zu. Und es macht Lehrer notwendig, welche eine hinreichende fachdidaktische Kompetenz für den Unterricht aufweisen. In der neuen Primarstufenlehrerbildung ist daher vorgesehen, dass jeder Lehrer einen fachdidaktischen Schwerpunkt entweder für das Fach Deutsch oder das Fach Mathematik zu wählen hat. Für die Volksschule  der Zukunft bedeutet dies den Wechsel zum Zweilehrersystem: Zwei Lehrer mit unterschiedlichen fachdidaktischen Schwerpunkten führen zwei Klassen im Team. Bis dahin müsste man sich dringend mit dem Einsatz eines Zusatz-Lehrers in jeder vierklassigen Volksschule zur Differenzierung im Leseunterricht behelfen. Im Dienstpostenplan müsste dies berücksichtigt werden.

 Auch auf den Zusammenhang zwischen Schulbildung der Eltern und Ergebnisse im Lesetest wurde hingewiesen. Von den Kindern der Eltern bloß mit Pflichtschulabschluss erreichen 70 %  die Lernziele nur mangelhaft oder gar nicht, von den Kindern akademisch gebildeter Eltern nur 20 % . Die oft kritisierte Bildungsvererbung zeichnet sich damit ab. Konkret: Das Interesse der Eltern an den Schulleistungen der Kinder und die Möglichkeit der außerunterrichtlichen Nachhilfe entweder auf Grund der eigenen Bildung oder der Möglichkeit des Zukaufs von  Unterstützung der Schüler führt zum Erfolg.

 Auf die eigentliche Ursache dieser unerwünschten Ergebnisse wird in der Diskussion nicht eingegangen: die Schulorganisation in der Mittelstufe des österreichischen Schulsystems. Das Nebeneinander der Wahlschule „Allgemeinbildende höhere Schule“ und Pflichtschule „Hauptschule/Neue Mittelschule“ verursacht in der Volksschule einen starken Selektionsdruck. Er führt dazu, dass die Förderung der tatsächlich oder vermeintlich besonders befähigten Schüler in den Vordergrund rückt, meist auch auf Grund des Drucks, den interessierte Eltern auf die Lehrer ausüben. Die Unterstützung der Schüler mit Lernschwierigkeiten muss demgegenüber zurückstehen. Die verfrühte  Schullaufbahnentscheidung in Richtung Matura bereits bei den Zehnjährigen begründet die Bildungschancenungerechtigkeit in unserer Gesellschaft. Dass eine sozialdemokratische Unterrichtministerin dies nicht thematisiert, ist zu bedauern. Gerade weil der Koalitionspartner ÖVP immer wieder dagegen auftritt, sollte man immer wieder für die Gesamtschule im Bereich der Zehn- bis Vierzehnjährigen mit guten Gründen argumentieren.

 Die bildungspolitische Glaubwürdigkeit der Unterrichtsministerin wird im Übrigen von ihr selbst in Frage gestellt. Beim Bildungsgipfel am 17. November 2015 hat sie gemeinsam mit Staatssekretär Mahrer  triumphierend die Einigung über die Verwaltungsreform im Schulwesen verkündet, im Gespräch mit der PRESSE am 3. 4. 2016 spricht sie hingegen die Erwartung aus, man werde sich bis zum kommenden Sommer hin mit der ÖVP einigen.  Auch dazu eine Anmerkung: Der Ersatz der Landesschulräte (als Kollegialorgane) durch die Bildungsdirektionen (als monokratische Institutionen) stellt einen weiteren Schritt in der Entdemokratisierung der Gesellschaft dar. Das sozialdemokratische Prinzip lautete doch noch zu Zeiten Bruno Kreiskys „Durchflutung aller Bereiche der Gesellschaft mit Demokratie“.

K.S.