Gesamtschule – das Unwort der österreichischen Bildungspolitik

von Helmut Seel

Gesamtschule – das Unwort der österreichischen Bildungspolitik

Neuerdings wird über die Reformbedürftigkeit des österreichischen Schulsystems wieder viel geredet. Ausgelöst wurde die aktuelle Debatte durch den PISA-Bericht 2016, der dem -österreichischen Schulsystem wieder einmal  bescheinigt, dass bei den Sechzehnjährigen im internationalen Vergleich enorme Kompetenzdefizite im Lesen, in der Mathematik sowie in den Naturwissenschaften bestehen. Dies ist nichts Neues, es war auch in den früheren OECD-Berichten aufgewiesen worden.

In der Ursachenforschung ist man bisher nicht richtig fündig geworden. Die Wurzeln des Übels liegen sicher in der Grundschule („Volksschule“). Dies wurde im Nationalen Bildungsbericht 2015 verdeutlicht. Das Klassenlehrer-System ist eine der Ursachen. Ein Lehrer in der Klasse kann die notwendigen differenzierten individuellen Unterstützungsbedürfnisse nicht leisten. Er wird sich – oft auf Druck der Eltern - mehr der Förderung der vermeintlich oder tatsächlich leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler widmen, die leistungsschwächeren  werden hingegen nicht angemessen unterstützt.  Damit wird die im Schulorganisationsgesetz festgelegte Aufgabe der Volksschule (§ 9, Abs. 2: „allen Schülern eine gemeinsame Elementarbildung  ... zu vermitteln“) verfehlt.

Dies wird von der bestehenden Struktur der Mittelstufe des Schulsystems verursacht. Dort laufen eine Wahlschule (die bis 1962 schulgeldpflichtige „Mittelschule“, seit 1962 „allgemeinbildende höhere Schule“/ AHS) und eine Pflichtschule (bis 2012 die „Hauptschule“, seitdem die „Neue Mittelschule“) parallel. Diese Schulorganisation ist ein Kompromiss, der bereits in der  Ersten Republik 1927 gefunden wurde, als die Einführung einer „Allgemeinen Mittelschule“ von der sozialdemokratischen Partei nicht durchgesetzt werde konnte. Die „Hauptschule“ wies die Struktur der „Allgemeinen Mittelschule“ auf: eine gemeinsame Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen mit Leistungsdifferenzierung in zwei Klassenzügen. Der I. Klassenzug sollte das Leistungsniveau der „Mittelschule“ aufweisen (prüfungsfreier Übertritt mit guten Leistungen). Als Kompromiss konnte diese Schulorganisation auch gelten, da damals nur 5 bis 10 % des jeweiligen Schülerjahrgangs in die „Mittelschule“ (Gymnasium, Realgymnasium, Realschule, Frauenoberschule) eintraten.

Diese Schule sollte den Zugang zur Universität „vermitteln“. Das Gymnasium und die Realschule waren bereits bei ihrer Gründung 1849  in eine vierklassige Unterstufe (Allgemeinbildung) und eine vierklassige Oberstufe (Studienvorbereitung) gegliedert. Im Zusammenhang mit der Einführung der achtjährigen Schulpflicht 1869 entstand neben der Volksschul-Oberstufe (Schulstufen 5 bis 8) die „Hauptschule“ für befähigtere Pflichtschüler. Sie bot Fachlehrerunterricht und ihr Lehrplan orientierte sich mit seiner Fächerstruktur an der Mittelschul-Unterstufe.  Sie entwickelte sich bald zur Zubringerschule zu den entstehenden berufsbildenden „Mittelschulen“ (Lehrerbildungsanstalt, Gewerbeschule, Handelsakademie). Eine Parallelität zwischen Hauptschule und Mittelschul-Unterstufe entstand.

Die „Allgemeine Mittelschule“ war in schulpädagogischem Verständnis als Gesamtschule konzipiert, als gemeinsame Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen (Sekundarstufe I nach der UNESCO-Gliederung der Schulsysteme). Für die Sechs- bis Zehnjährigen ist die Volksschule (Grundschule/Primarstufe) eine Gesamtschule. Eine Gesamtschule im Mittelstufenbereich des Schulsystems würde die Grundschule vom Prüfungsdruck entlasten. Es müssten keine Berechtigungen vergeben werden. Die Grundschule könnte sich auf die Förderung aller Schülerinnen und Schüler konzentrieren und das Entstehen einer Versagergruppe vor allem im Lesen verhindern. Zwischen den Mängeln im Lesen und dem sozio-ökonomischen Status der Schülerinnen und Schüler besteht ein enger Zusammenhang, der die oft beklagte Vererbung der Bildung in der

österreichischen Gesellschaft begründet. Die außerschulische Wertschätzung und Pflege des Lesens  sind wesentlich. Sie müssen bei einem Teil der Schüler durch besondere Förderung in der Schule so weit wie möglich wettgemacht werden. Das Lesen ist für alle anderen Unterrichtsfächer von Bedeutung.  Auch die Leistungen in Mathematik hängen vom verstehenden Lesen der Aufgaben ab. Ein Leistungsdefizit im Lesen kann in der Mittelstufe kaum noch aufgeholt werden und schlägt sich in den Versagerquoten des PISA-Tests nieder.

In der Diskussion der Schulreform entsteht derzeit der Eindruck, dass man die Ursache der Problematik gar nicht wahrnehmen will. Für die ÖVP ist die Langform des Gymnasiums „in Stein gemeißelt“,  von einer Gesamtschule für den Mittelstufenbereich darf  nicht gesprochen werden. Die sozialdemokratische Unterrichtsministerin Dr. Hammerschmid spricht auch nicht mehr davon, wohl um den Koalitionspartner nicht zu reizen. Und doch sollte immer wieder darüber geredet werden.

Der Selektionsprozess für die verschiedenen Bildungsgänge in der Oberstufe (AHS-Oberstufe, berufsbildende höhere Schulen/BHS, berufsbildende mittlere Schulen/BMS,  Lehre mit Berufsschule) könnte in der Gesamtschule als reversibler Prozess fachspezifisch gestaltet werden. Die entsprechende schulorganisatorische Struktur der Leistungsdifferenzierung durch fachspezifisch zusammengesetzte Leistungsgruppen in den Sprachen und in der Mathematik wurde 1983 in der Hauptschule eingeführt. Auch die zunächst 2008 als Schulversuchsmodell gestartete „Neue Mittelschule“ war als Gesamtschule konzipiert. 2012 gab die Unterrichtsministerin  Dr. Schmied  diesen Anspruch auf, als sie mit der ÖVP vereinbarte, die „Neue Mittelschule“ an Stelle der Hauptschule nur neben der bestehen bleibenden AHS-Unterstufe einzurichten. Die „Neue Mittelschule“ weist  leider – verglichen mit den Leistungsgruppen der „Hauptschule“ – eine wenig transparente Leistungsdifferenzierung (Unterscheidung zwischen grundlegender und vertiefter Allgemeinbildung im leistungsheterogenen Klassenverband) auf, welche die Lehrer oft überfordert und die Schüler wenig motiviert.

Durch die Einführung der Gesamtschule im Mittelstufenbereich könnten auch regionale Defizite in den Bildungschancen aufgehoben werde, da diese Gesamtschulen an den meisten Hauptschulstandorten eingerichtet werden könnten. Die Gesamtschule im Mittelstufenbereich hätte aber auch einen demokratiepolitischen Effekt: Die gemeinsame Schulbildung bis zum Ende der Schulpflicht führt zu größerem sozialen Verständnis, zur besseren sozialen Integration. Diese und noch weitere Gründe waren ie Ursache, dass in allen nordischen,  westlichen und südlichen Staaten Europas die Gesamtschule zur Norm wurde..

Hier liegt allerdings auch einer der Gründe, warum konservative politische Parteien wie die ÖVP die Gesamtschule nicht goutieren. Sie verteidigen die gegebenen gesellschaftlichen Strukturen auch durch das Angebot einer besonderen Schule für den Teil der Gesellschaft, der sich privilegiert sieht. Durch  die Reform der Lehrerbildung fällt allerdings in Zukunft eine der Besonderheiten dieser besonderen Schule weg, denn nun werden die Lehrer für alle Sekundarschulen (Neue Mittelschule, AHS, Polytechnischer Lehrgang) in gleicher Weise an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen ausgebildet. Das Lehrerdienstrecht wurde schon angepasst: Lehrer der Neuen Mittelschule und der AHS-Unterstufe werden gleich besoldet. Vielleicht trägt das zur Integration der Schularten bei.