Da ist uns doch etwa in den Schoß gefallen!

von Helmut Seel

Die Bilder der zur Einigung über das Schulreformpaket sprachen Bände: Eine vor Freude überschäumende Bildungsministerin Hammerschmid, ein  zufriedener Abgeordneter der Grünen Walser und ein eher verdrossen blickender  ÖVP- Minister Mahrer. Hier haben offenbar die Grünen für die Bildungsministerin die Kastanien aus dem Feuer geholt!

Der Beharrlichkeit der Grünen ist es zu verdanken, dass die Schulreform 2017 doch noch eine bildungspolitisch relevante Perspektive erhalten hat. Großflächige Schulversuche mit der  Gesamtschule werden in Zukunft möglich sein.  Die kleineren Bundesländer können zur Gänze als  Versuchsregion geführt werden. Die Grünen denken vor allem an Vorarlberg.

Und es gilt auch gleich, den Begriff Schulversuch zu interpretieren. Von 1971 bis 1983 wurden in Österreich bereits Schulversuche mit der Gesamtschule durchgeführt. Sie wurden wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Es zeigte sich, dass auch in den Hauptschulen mit dem Modell der Gesamtschule,  mit heterogen zusammengesetzten Stammklassen für den  Unterricht in den Realien-Fächern und im musisch–technischen Fächerbereich  sowie mit fachspezifisch zusammengesetzten Leistungsgruppen in den Sprachen (Deutsch, Englisch)  und in Mathematik, in den oberen Leistungsgruppen AHS-adäquate Leistungen  und bei den leistungsschwächeren Schülern bessere Leistungen als im damaligen II. Klassenzug der Hauptschule erreichbar waren. Experten konnten diese Befunde nicht überraschen. Sie entsprachen den in ausländischen Schulversuchen mit komprehensiven Formen der Schulorganisation auf der Sekundarstufe I erreichten Ergebnissen. In den in meisten europäischen Staaten hatte dies zur Einführung der Gesamtschule im Bereich der Sekundarstufe I (Schulstufen 5 – 8/9/10) geführt. In Österreich führte es dagegen nur zur Reform der Hauptschule 1983. 

Befunde gibt also genug,  ausländische Beispiele ebenso.  Das Wort Schulversuch muss daher anders verstanden werden. In einer fragwürdigen legislativen Tradition wird jede Abweichung von der schulorganisatorischen oder pädagogischen Norm im österreichischen Schulsystem als Schulversuch bezeichnet. Besser wäre wohl, von Alternativschulen zu sprechen, wenn eine bewährte organisatorische (Beispiel Mehrstufenklassen) oder pädagogische Abweichung (Beispiel Prüfungs- oder Beurteilungsformen) praktiziert wird.

Auch die Gesamtschule ist in diesem Sinn als schulorganisatorische Alternativschule zu betrachten, die sich bereits bewährt hat  und wissenschaftlich evaluiert wurde. Die Neue Mittelschule ist das nicht, ihre vergleichende Evaluation wurde 2012 von der Unterrichtsministerin  Schmied abgebrochen, als ihr von der ÖVP gestattet wurde, alle Hauptschulen in Neue Mittelschulen umzuwandeln. Der Preis: die Bestandsgarantie für die Langform der AHS. Eine schulpolitische Fehlentscheidung aus der Sicht der SPÖ. Das Urteil des mit der Evaluation der Neue Mittelschule beauftragten Prof. Dr. Eder von der Universität Salzburg: „Die Einrichtung der Neuen Mittelschule erfolgte wenig evidenzbasiert und zumindest ohne expliziten  Bezug auf die Evaluierung des  Bestehenden“.  Als Teil einer formativen Evaluation der Neuen Mittelschule könnte man aber eine Befragung der Lehrerinnen und Lehrer der berufsbildenden Oberstufenschulen heranziehen. Sie alle berichten  sowohl über eine schlechtere  fachliche Leistungen als auch Mängel in der Arbeitshaltung und Leistungsmotivation der Absolventen der NMS im Vergleich zu den Hauptschülern.         

Die Neue Mittelschule versagt vor allem in der Begabungsförderung. Die in der 3. und 4-. Klasse vorgesehene Leistungsdifferenzierung ist intransparent und unzuverlässig. Die Entwicklung der Leistungsmotivation erfordert entsprechende Strukturen zur Identifikation. Auch das Wettbewerbsmoment sollte mehr Ausdruck finden.   

Mit den Modellregionen mit der Gesamtschule wird das zentrale Problem des österreichischen Schulsystems  aufgegriffen. Es leidet an der Zweigleisigkeit im Bereich der Sekundarstufe I. Die Volksschule kann aus diesem Grund das Ziel der Vermittlung einer Grundbildung für alle Schüler nicht erreichen. Sie hat eine Auswahlfunktion zu erfüllen,  welche zwangsläufig zur besonderen Förderung der tatsächlich oder vermeintlich Befähigten führt. Leistungsschwächere Schüler, eventuell Opfer der üblichen Einschulungsstrategie, erhalten zu wenig Unterstützung und Lernhilfe. Hier liegt die Wurzel der in den PISA-Tests immer wieder festgestellten Defizite im Lesen und im Rechnen der österreichischen Schulabgänger. Hier liegt auch die Ursache für die geringere Chancengleichheit im österreichischen Schulsystem, welche von der OECD kritisiert wird. Die Schulorganisation  mit der Gesamtschule entspricht im Übrigen der bereits vollzogenen Reform der Lehrerbildung (einheitliche Ausbildung aller Sekundarlehrer) und des Lehrerdienstrechts (einheitliche Besoldung aller Lehrer der Sekundarstufe I).  

Die sozialdemokratische Partei sollte es daher nicht den Grünen überlassen, die Gesamtschule zu forcieren. Hier handelt es sich um eine Forderung der Sozialdemokratie seit hundert Jahren. In der Ersten Republik führte der Kampf um die in Schulversuchen erprobte Allgemeine Mittelschule zum Kompromiss 1927: die Einrichtung der Allgemeinen Mittelschule mit zwei Klassenzügen in Form der Hauptschule neben den traditionellen und nur von wenigen Schülern zur Studienvorbereitung besuchten  traditionellen Mittelschulen Gymnasium, Realgymnasium und Realschule. Auch das Burgenland wäre als Modellregion für die Gesamtschule möglich. Die SPÖ sollte diese Möglichkeit nützen.