“Teaching to the Test” und die Folgen einer Systemumstellung


Endlich einmal konnte Bildungsminister Faßmann abseits von corona-bedingten Schulschließungen und holprigem Distance Learning etwas Erfreuliches berichten. Österreichs Schüler haben bei der TIMSS-Studie(Trends in International Mathematics and Science Study) aus dem Frühjahr 2019 deutlich besser abgeschnitten als zuletzt 2011. Die positive Entwicklung wird von Faßmann auf die Einführung der Bildungsstandards und die damit einhergehenden „klaren Zielvorgaben“ zurückgeführt. „Was am Ende der Volksschulzeit beherrscht werden muss, steht nun im Mittelpunkt des Unterrichts“, sagt Faßmann, „und das führt zu besseren Ergebnissen“.

Weniger erfreulich sind allerdings die Ergebnisse im naturwissenschaftlichen Bereich. Dort schneiden Österreichs Schüler schlechter ab als zuletzt und befinden sich lediglich im EU-Mittelfeld. Gut möglich, dass diese widersprüchlichen Ergebnisse die Folge einer weitreichenden  Systemumstellung sind, die mittels Controlling und Monitoring den Unterricht an output-orientierten Ergebnissen misst. Die Grundproblematik solcher Kontrollsysteme: Eine enge Fassung der Bildungsstandards und die unvermeidlich daran anschließenden Testverfahren führen  auch zu einer Einengung der Bildungsziele und zu einer primären Ausrichtung des Unterrichtes am Testergebnis (Teaching to the Test).

Das würde auch erklären, warum sich an der für das österreichische Bildungssystem typischen und wirklich katastrophalen Abhängigkeit der Schülerleistungen vom familiären Hintergrund nichts geändert hat. Hierzulande sind die Leistungen stärker vom sozioökonomischen Hintergrund abhängig als im OECD-Schnitt. Kinder aus bildungsfernen Schichten erreichen noch seltener einen Hochschulabschluss.  Akademikerkinder sind den übrigen Mitschülern um unglaubliche 3,6  bis 4,4 Lernjahre voraus! 

Diese Situation würde dringend nach  einer echten Ursachenanalyse und nach entsprechenden Gegenstrategien verlangen. Eine “Systemsteuerung”, die nur den Output im Auge hat, ist dazu kaum in der Lage. Was dabei zu kurz kommt: eine tiefergehende klassen- und schulspezifische Analyse von Leistungsergebnissen. Für eine ernstgemeinte Ursachenanalyse benötigen Schulen einige Voraussetzungen:  eine gute kollegiale Kooperation, didaktisch-methodische Expertise, Wissen um die familialen und sozio-ökonomischen Gegebenheiten im schulischen Umfeld, Rahmenbedingungen für eine angstfreie Auseinandersetzung mit Daten und Fakten, ausreichend schulautonome Freiräume, eine qualifizierte Schulleitung, echte Unterstützung durch Schulaufsicht und Schulbehörden, ein eigenes Budget für den Zukauf von Beratung und Unterstützung usw. usw. Wer die Schulrealität kennt, der weiß, dass das in Wahrheit eine beachtliche Mängelliste ist, die große finanzielle und konzeptive Investitionen erforderlich machen würde.

Einfacher und billiger ist es daher für die aktuell politisch Verantwortlichen, auf Testverfahren und Controlling zu setzen und ein umfangreiches Planungs-und Berichtswesen anzuordnen. Und genau auf diese Maßnahmen setzte die Bildungspolitik unter Türkis-Blau und setzt sie leider auch unter Türkis-Grün. Das beginnt schon beim Schuleintritt und den dort beobachtbaren Versuchen mittels fragwürdiger  Schulreifetests sowie Sprachstandsfeststellungen bzw. dem MIKA-D-Test für Deutschförderklassen, das setzt sich fort mit der “individualisierten Kompetenzfeststellung” in der 3. Schulstufe der Volksschule, die ganz offensichtlich den Schulübertritt in weiterführende Schulen mittels Testverfahren regeln will, und  führt schließlich über die Bildungsstandards und den damit verbundenen einschlägigen Tests hinaus zu den vom Ministerium dringend empfohlenen “informellen Kompetenzmessungen”. Hier ist noch nicht einmal von den internationalen Überprüfungen unter dem Titel “PISA” oder “TIMSS” die Rede!

Was unter Bildungscontrolling zu verstehen ist, das ist dem Bildungsdirektionen-Einrichtungsgesetz zu entnehmen, das allerdings schon unter rot-schwarzer Verantwortung entstanden ist. Es geht um den Aufbau “eines periodisches Planungs- und Berichtswesen (Entwicklungspläne, Qualitätsberichte, Qualitätsprogramme) sowie um periodische Bilanzierungen und Zielvereinbarungen auf und zwischen allen Ebenen der Schulverwaltung und der Schulen, einschließlich Schulcluster (Qualitätsmanagement).” 

Weitgehend unklar  bleibt, wie die Schulen zu den notwendigen Ursachen-Analysen als Grundlage für ihre Planungen kommen sollen. Das Gesetz formuliert:  “In diesem Zusammenhang kommt der Schulaufsicht bei der Gewinnung und Umsetzung der Zielvereinbarungen für bundesweite und regionale Zielsetzungen der Schulentwicklung eine wesentliche Rolle zu." Mit anderen Worten: Das ist der Rückgriff auf ein altes Instrumentarium, das schon vorher nicht wirklich funktioniert hat.

Wie schaut ein Planungs-und Berichtswesen  ohne vorausgehende Analyse in der Realität des Großbetriebes Schule  aus? Das sprichwörtliche Papier wird wohl wieder einmal sehr geduldig sein müssen! Typisch für eine neoliberale Konzeption ist die scheinbare Vereinfachung komplexer Probleme durch Rückgriff  auf relativ simple betriebswirtschaftliche Fragestellungen  unter Verwendung des einschlägigen begrifflichen  Inventars. Die komplexe Lernsituation in einer Schule wird zu einem Steuerungsproblem der Konzernzentrale, die im Falle von Absatzrückgängen von den Filialleitern Planungsberichte und Entwicklungspläne einholt und in weiterer Folge immer neue Output-Analysen anordnet. Ein Blick ins Weißbuch des Ministeriums   „Steuerung des Schulsystems in Österreich” macht deutlich, was da drohen kann! “Primäre Wirkungserwartung ist daher, dass durch die Einführung externer Schulevaluation in Österreich wichtige Impulse für die Qualitätsentwicklung der pädagogischen Arbeit und des Schulmanagements geleistet werden. Zusätzlich soll die externe Schulevaluation durch die Zusammenschau von Informationen aus Standortevaluationen relevantes Steuerungswissen über Schulqualität auf Systemebene produzieren, z. B. bezogen auf Schulformen und -stufen, die Bildungsregionen, die Länder und Bundesebene. Dies erfordert eine hohe Standardisierung der Verfahren der Evaluation.” Es bleibt wieder völlig offen, wie aus Output-Daten relevantes Steuerungswissen entstehen soll! Das sind  Blütenträume steuerungswütiger Bildungsmanager! 

Der renommierte Bildungswissenschaftler Ewald Terhard weist besorgt darauf hin, dass das Wissen über Leistungsergebnisse und Leistungsvoraussetzungen von Schulsystemen und Schulen  schneller wächst als das Wissen darüber, was man mit diesem Wissen anfangen kann und soll. Einiges spricht dafür, dass wir uns schon auf dem Weg zu einem Schulsystem befinden, das in erster Linie Daten anhäuft und dabei auf elementare Aufgabenstellungen vergisst.

Um es nochmals klar zu sagen: Dieser Systemumstellung liegt ein neoliberales Konzept zugrunde, das von den wirklichen Problemen des österreichischen Bildungswesens ablenkt. Bildung benötigt einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem nicht wichtige Bereiche von vornherein ausgeklammert werden. Die Reduzierung sozialer Benachteiligungen gehört zu den elementaren Aufgaben eines sich selbst ernst nehmenden Bildungssystems. Eine Grundsatzdebatte wäre wohl erforderlich, aber wo ist sie zu führen? Wehmütig erinnert man sich an die Schulreformkommission in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, die zumindest in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit diesen  Anspruch einlösen konnte.

K.S.