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Volksschulreform auf der Grundlage eines unzeitgemäßen Schulorganisationsgesetzes ?

von Helmut Seel
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Das österreichische Schulorganisationsgesetz (SchOG) ist novellierungsbedürftig. Es stammt aus 1968, hat aber schon damals eigentlich nur den Aufbau des Schulsystems nach der Reform im Jahr 1927 abgebildet. Dass man neuerdings die Reformbedürftigkeit der Volksschule erkennt, ist erfreulich.. Wenn das Versagen bei der Neugestaltung der Sekundarstufe I (Mittelstufe des Schulsystems) der Grund dafür sein sollte, wäre das  allerdings bedenklich. Ohne Klärung der Organisation des Mittelstufenbereichs lässt sich eine sinnvolle Reform der Grundschule nicht durchführen.

Die Volksschule als Grundschule (Primarschule) hat nach SchOG die Aufgabe, „eine für alle Schüler gemeinsame Elementarbildung ... zu vermitteln“ (§ 9). Die Hauptschule „schließt an die 4. Stufe der Volksschule an und hat die Aufgabe, ... eine grundlegende Allgemeinbildung zu vermitteln sowie  den Schüler je nach Interesse, Neigung, Begabung und Fähigkeit für das Berufsleben und zum Übertritt in mittlere oder in höhere Schulen zu befähigen“ (§ 15). Als „Haupt“-Schule besuchten sie rd. 90 % der Schüler der Altersgruppe. Als einer „Gesamt“-Schule der Mittelstufe des Schulsystems ist ihr daher eine Selektionsaufgabe zugeordnet. Die „alte“ Mittelschule (im SchOG in allgemeinbildende höhere Schule AHS umbenannt) stand als Wahlschule außerhalb des Systems, eine „Sonderschule für Schwerstbefähigte“ (K.H. Gruber) für die 5 bis 10 % der Kinder aus einer kleinen, elitären Bildungsbürgerschicht. Sie war (bis 1971)  nur über eine Aufnahmeprüfung zugänglich, die seit 1927 auf den Lehrstoff der vierstufigen Grundschule bezogen war. Vor 1927 war es – abgesehen vom häuslichen Unterricht - üblich,  die Volksschule so lange zu besuchen, bis man für die Aufnahmeprüfung ausreichend vorbereitet schien. Die Mehrzahl der Schüler trat nach der 5. Volksschulklasse über.

Due Realität ist heute anders: Die Mittelstufe ist in zwei Schultypen gegliedert, in die Hauptschule (mit dem Trend zu einer Restschule) und der attraktiven Unterstufe der AHS, welche - abhängig von ihrer regionalen Verfügbarkeit -  von 80 oder mehr % der Schülerpopulation besucht wird. Die Selektionsfunktion bleibt der Hauptschule zwar erhalten und wird durch Leistungsdifferenzierung vorbereitet, ihre Bedeutung geht jedoch zurück. Auch die Einführung der „Neuen“ Mittelschule ändert diesen Sachverhalt nicht, ihr steht jedoch ein weniger transparentes Instrumentariun für die Selektionsaufgabe zur Verfügung. Die Volksschule hat – im Gegensatz zu ihrer Aufgabenstellung  im SchOG – eine bedeutsame Selektionsfunktion übernommen, ohne auf diese strukturell vorbereitet zu sein. Die AHS („alte“ Mittelschule) ist nun im System  stärker integriert: Nach dem Ende der Schulversuche mit der Gesamtschule 1983 wurden die Lehrpläne der Hauptschule und der AHS-Unterstufe wortident gestaltet. Nach der Abschaffung der Aufnahmeprüfung ist die Zugangsberechtigung durch die Leistungsbeurteilung auf der 4. Schulstufe („Sehr gut“ oder „Gut“ in Deutsch und Mathematik) bestimmt.

Zweifellos wäre es zukunftsträchtiger, wenn die Einführung einer einheitlichen, gemeinsamen Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen gelänge. In ihr könnte prozesshaft eine treffendere Identifikation der Begabungen  und Fähigkeiten an den Aufgaben des Fachunterrichts der Mittelstufe gelingen. Darüber hinaus würde sich ergeben:

  • die schrittweise Umgestaltung des erlebnisorientierten Gesamtunterrichts zum wissenschaftsorientierten Fachunterricht;
  • die Erfüllung der sozialintegrativen Aufgaben der Schule als Entwicklung eines sozialschichtenübergereifenden gegenseitigen Verständnisses im Zusanmmenhang mit den gleichen Verpflichtungen aller in einem demokratischen politischen System;
  • die Sicherung einer grundlegenden Allgemeinbildung als Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in persönlichen und gesellschaftlichen Problemlagen am Ende der Schulpflicht;
  • die Verbesserung der Bildungschancen der Heranwachsenden aus sozial und regional benachteiligten gesellschaftlichen Bereichen.

Die Volksschule in ihrer derzeitigen Struktur (Klassenlehrerpinzüp, Klassenführung durch denselben Lehrer über mehrere Schulstufen) bietet keine gute Voraussetzung für den Selektionsprozess. Es kommt oft zu einer frühzeitigen, verfrühten (1., 2. Schulstufe), wenig gesicherten Feststellung von Befähigungen, welches die Förderung im weiteren Verlauf bestimmt. Wirklich oder vermeintlich Befähigte erhalten mehr Unterstützung, sie sollen ja auf die AHS gut vorbereitet werden, bei weniger Befähigten entstehen wachsende Leistungsdefizite, die nicht behoben werden. Auch das Interesse der Eltern kann sich bei der Leistungsbeurteilung auswirken. Das Ziel, eine für alle Schüler gemeinsame Elementarbildung zu vermitteln, wird verfehlt.

Trotz der Unklarheit über die Schulorganisation der Mittelstufe lassen sich strukturelle Verbesserungen der Volksschule aufweisen:

  • Die flächendeckende Einführimg der Schuleingangsphase. Dabei werden  zu Schuljahrsbeginn alle schulpflichtigen Kinder aufgenommen. Die Klasse, welche die Vorschulstufe und die Schulstufen 1 und 2 umfasst, witd von zwei Lehrern betreut. Die Schüler verbleiben bis zum Erreichen der Lernziele der zweiten Schulstufe in der Klasse, der Lernprozess kann zwei oder drei Schuljahre umfassen. Besonders leistungsfähige und geförderte Kinder können dieses Ziel auch in einem Schuljahr erreichen und in die 3. Schulstufe aufsteigen (Überspringen einer Schulstufe). Der Klassenverband ist eine Mehrstufenklasse, in welche jedes Schuljahr eine Schülergruppe eintritt, während eine andere den Klassenverband verlässt.  Die Präsenz von Kindern mehrerer Altersstufen ermöglicht vielfältige Formen sozialen Lernens. Der Lehrgang im Schreiblesen und in Mathematik muss modularisiert und vom Jahreskreis losgelöst werden, um individuelle Abläufe des Lernens zu ermöglichen. Die traditionellen „Fibeln“ entsprechen dem nicht.
  • Das Zweilehrer-System in der 3. und 4. Schulstufe. Um die Schülerbeurteilung zu objektivieren und den Schülern mehrere Identifikationspersonen anzubieten, übernehmen zwei Lehrer in Parallelklassen oder in aufsteigender Form zwei Klassenverbände,  wobei sie sich im Rahmen ihrer Lehrbefähigung für alle Unterrichtsgegenstände der Volksschule für einige Zeit auf den Unterricht in Deutsch bzw, Mathematik spezialisieren. Die anderen Unterrichtsgegenstände werden nach Interesse und besonderer Befähigung  aufgeteilt. Im Rahmen der Schulversuche auf der Grundlage der 4. SchOG-Novelle 1971 wurde diese Organisationsform der Volksschule bereits erfolgreich erprobt. Auch hinsichtlich der Unterrichtsqualität sind positive Auswirkungen infolge einer bestimmten fachdidaktischen Vertiefung zu erwarten.  

Sollte die Zweiteilung der Mittelstufe in Form einer Klassenzug-Differenzierung (1. Klassenzug AHS-Unterstufe, 2. Klassenzug Neue Mittelschule) längerfristig erhalten bleiben, müsste wohl das Team Teaching (gleichzeitige Anwesenheit von zwei Lehrern in der Klasse) in Deutsch und Mathematik aus der Neuen Mittelschule in die 3. und 4. Schulstufe  der Volksscbule übertragen werden, um die ausgesprochene (gemeinsame Elementarbildung) und die unausgesprochene (Begabten-Selektion) Aufgabe der Volksschule durch Differenzierungsmaßnahmen zu erfüllen.