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Oskar Achs / Zwischen Gestern und Morgen

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 „Zwischen Gestern und Morgen“, das ist eine höchst lesenswerte, hervorragend gelungene Publikation, die nicht leicht in ein Kästchen einzuordnen ist. Der Autor, Oskar Achs, folgt den Spuren von Carl Furtmüller, einem bedeutenden, heute nahezu vergessenen österreichischen Sozialdemokraten, der die Schulreform der 20er-Jahre in maßgeblicher Weise mitgestaltet hat. Dennoch handelt es sich um keine Biographie im engeren Sinne, denn dafür sind dem Autor die historischen Abläufe und das kultur- und geistesgeschichtliche Umfeld zu wichtig, ein Umfeld, das teils in groben Umrissen, dann wieder in hochinteressanten Details beschrieben wird. Eine umfassende Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie ist es nicht und will es nicht sein, denn das Buch befasst sich über weite Strecken mit einem der Lebensmittelpunkte von Carl Furtmüller, dem Kampf um die Schulreform – so der Untertitel - als unverzichtbarem Teil einer Gesellschaftsreform. Dennoch fasziniert von Beginn an die Tatsache, dass der junge Carl Furtmüller, der an der Universität Wien das Gymnasiallehramt für Latein und Griechisch erwirbt, in wenigen Jahren mit einer Vielzahl von Personen in engen Kontakt kommt, die in den letzten Jahren der Monarchie in der linken Szene ein Rolle spielen und schon wenige Jahre später bedeutenden politischen oder wissenschaftlichen Einfluss haben.

Ausgangs- und immer wieder Bezugspunkt ist die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien um 1900 mit ihrer unglaublichen Vielfalt an unterschiedlichsten geistigen Strömungen, einer einzigartigen Konzentration von genialen Denkern und Forschern und den bereits unübersehbar sich anbahnenden gesellschaftspolitischen Veränderungen. Carl Furtmüller ist nicht nur Zeitzeuge, sondern bereits aktiver Mitgestalter in vielen dieser Bereiche.  Seine auch privaten Verbindungen zur Emigrantenszene  - er lernt dort seine spätere Frau kennen - wecken sein Interesse für sozialrevolutionäre Ideen und führen ihn dann auch bald zum „Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein“, wo sich die führenden Köpfe der  Sozialdemokratie, aber auch Vertreter des bürgerlichen und nationalen Lagers zusammenfanden. Die Bedeutung dieser damals entstehenden Vereine, Diskussionszirkel, Abendgesellschaften kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden , nicht nur als Kaderschmiede für die sich neu formierende Parteienlandschaft, sondern insbesondere auch als ein Forum für die noch nicht im universitären Bereich etablierten Gesellschafts- und Sozialwissenschaften. Für die Sozialdemokratie werden die Bildungsvereine, die alle Schichten der Bevölkerung ansprechen und die gleichzeitig auch Orte sind, wo gesellschaftswissenschaftliche Analysen und politische Handlungsoptionen zusammengeführt werden, zu einem konstitutiven Element bei der Formulierung von  Programmatik  und Strategie.

Carl Furtmüller ist bei diesen Entwicklungen in maßgeblicher Weise mit dabei, ein exzellenter Mann, der in der zweiten Reihe bleibt und von dort aus großen Einfluss ausübt. Über seine Freundschaft mit Alfred Adler findet er Zugang zur berühmten „Psychologischen Mittwochgesellschaft“ von Sigmund Freud und ist dann auch Gründungsmitglied der sich abspaltenden Individualpsychologischen Vereinigung. Schon in den Jahren davor ist er aktiv im Verein „Freie Schule“ tätig, lernt dort Otto Glöckel kennen und wird dann in der Zeit der Ersten Republik dessen Mitstreiter und maßgeblicher Mitgestalter der Wiener Schulreform.

Dem Autor gelingt in diesen Kapiteln der Nachweis, dass die  Einbeziehung der neuen Sozialwissenschaften, insbesondere der in Entstehung begriffenen Soziologie, der neuen ökonomischen Theorien und der Tiefenpsychologie in seiner individualpsychologischen Variante ein konstitutives Element des Austromarxismus darstellen, ohne die das Gelingen der großen Reformvorhaben in der 1. Republik nicht möglich gewesen wären. Man kann dieses Zusammenwirken von wissenschaftlicher Theorienbildung und darauf aufbauender politischer Strategie wohl als ein zentrales Thema im Leben und Wirken von Carl Furtmüller ansehen, der ja mit seiner Lebensspanne (1880 – 1951) das sogenannte sozialdemokratische Jahrhundert, wie es Ralph Dahrendorf nennt, nahezu vollständig abdeckt. Dieses Leben schließt daher auch die Abschnitte des erzwungenen Rückzugs (Zwangspensionierung) aus allen öffentlichen Ämtern in der Zeit des Austrofaschismus und schließlich die Flucht vor dem Nationalsozialismus und die Emigration in die USA mit ein. Die detailreichen Schilderungen der abenteuerlichen, lebensbedrohlichen Wege und Irrwege über die Schweiz, Frankreich, Spanien und Frankreich nach Portugal und schließlich nach Amerika gehören zu den ebenso erschütternden wie spannenden Kapiteln des Buches.

Furtmüller glaubte immer an die Niederlage des Faschismus, arbeitete in der Emigration an Konzepten für den Wiederaufbau und auch an – allerdings weitgehend folgenlosen – Schulprogrammen für die Zeit nach dem Ende des Weltkrieges. Schon 1945 wendet er sich bezüglich seiner Rückkehr an Karl Renner, erhält eine Einladung des Stadtschulratspräsidenten Leopold Zechner und 1948 ist er Direktor des Pädagogischen Institutes in Wien. Die verbleibenden 3 Jahre seiner Lebenszeit bringen die Erkenntnis, dass die Rahmenbedingungen für Schulreformen nicht einfach geworden sind. Der personelle Aderlass durch Emigration war nicht ohne Folgen für die wiedererstandene Sozialdemokratie geblieben und der Wiederaufbau stand nicht unter der Devise einer Gesellschaftsreform, die eine Schulreform miteinschließt. Carl Furtmüller kann und muss verstehen, dass es gewichtige Argumente gab, vieles zu vermeiden, was Erinnerungen an alte Themen des Kulturkampfes weckte, und nicht zuletzt war ein Gutteil des Lehrerpersonals an den Schulen nicht ohne Auswirkungen in der Nazi-Zeit herangewachsen. Richtungsweisend bleiben seine Aussagen in Richtung einer politischen Bildung, die erst in den 70er-Jahren eine Realisierung erfahren sollten: „Wir wollen aber, dass Individuen und Gesamtheit nicht nur Objekte, sondern auch Subjekte der Entwicklung seien, dass sie die Zukunft nicht nur sich anpassend erleiden, sondern dass sie an ihrer Gestaltung positiv mitzuarbeiten streben.“