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Über die Zukunft einer gemeinsamen Schule bis zum Ende der Schulpflicht

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Die Spaltung im Bereich der Mittelstufe des österreichischen Schulsystems schreitet voran. Die politische Entwicklung rückt die gemeinsame Schule bis zum Ende der Schulpflicht in die Ferne.  

Auf der einen Seite steht die Neue Mittelschule (NMS), die im Einzugsbereich einer Langform der AHS zu einer Art Sonderschule für lernbehinderte Kinder und Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache verkommt. Sie kann die bildungspolitisch wichtigen Aufgaben der Inklusion und der Integration nicht leisten. Beides setzt eine gesellschaftlich repräsentative Zusammensetzung der jeweiligen Klassenverbände voraus. Im Zuge der Inklusion sollen behinderte und nicht behinderte Schülerinnen und Schüler von einander lernen. In der  Normalität des Zusammenlebens wird gegenseitiges Verständnis und gegenseitige Wertschätzung erfahren und erworben. Die Integrationsbemühungen für die Schüler mit Migrationshintergrund  laufen ins Leere, wenn die sprachlichen Vorbilder in der deutschen Unterrichtssprache fehlen und die kulturelle und politische Normalität Österreichs nicht vorgelebt werden kann. Auf Grund einer fehlenden erkennbaren Binnenstruktur kann Leistungsmotivation kaum entstehen. Die Unterscheidung zwischen grundlegender und vertiefter Allgemeinbildung in der Beurteilung in Deutsch, Englisch und Mathematik ist kaum durchschaubar und wirkt nicht selten ungerecht.            

Auf der  anderen Seite die Unterstufe der allgemeinbildenden höheren Schule (AHS), die sich zur Gesamtschule ohne entsprechende Binnenstruktur für die meisten Schüler mit deutscher Muttersprache entwickelt. Längst ist der Wunsch der Eltern am Ende der vierten Volksschulstufe zum wichtigsten Faktor des Übertritts in die AHS geworden. Lehrer, die den Leistungsaspekt beachten wollen, geraten zunehmend unter Druck. Gezwungener Maßen konzentrieren sich die Volksschullehrer auf die besondere Förderung der tatsächlich oder vermeintlich begabten Schülerinnen und Schüler, um sie auf den Übertritt in die AHS vorzubereiten. Schüler mit sprachlichen oder geistigen Defiziten, die im  Interesse des Bildungsziels der Volksschule, allen Schülern eine einheitliche Grundbildung zu vermitteln, besonders gefördert werden sollten, erhalten nicht die notwendige Unterstützung und verlieren den leistungsmäßigen Anschluss. Die Defizite im Lesen und im Rechnen, die dabei entstehen, können in der Mittelstufenschule nicht mehr behoben werden. Sie werden in den PISA-Leistungstests                            immer wieder aufgewiesen. Sie  erscheinen angesichts des Spaltungsprozesses im Schulsystem irreparabel.    

Die AHS verliert ihren leistungsmäßig elitären Charakter. Sie wird zur Schule der Ober- und Mittelschicht der Gesellschaft, in denen die Bildung vererbt wird. Der OECD-Bericht hat auf diesen Sachverhalt erst kürzlich wieder hingewiesen. Auch die Entstehung von Parallelwelten in der Gesellschaft wird dadurch gefördert. Die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft setzt jedoch gleiche und freie Mitglieder voraus, die in der Lage sind, entsprechende politische Entscheidungen zu treffen und zu tragen. 

Aber auch die volkswirtschaftlichen Folgen des schulischen Spaltungsprozesses sind zu beachten. Es erhebt sich die Frage, wie lange die Gesellschaft auf die verlorenen Kapazitäten verzichten kann. Der Facharbeitermangel wird immer wieder beklagt. Auf dem Arbeitsmarkt haben Jugendliche, die nur die formale Erfüllung der Schulpflicht als Qualifikation aufzuweisen haben, wenig Chancen und belasten die Gesellschaft ökonomisch und sozial. Die Arbeitgeberseite ist  sich dieser Problematik wohl bewusst. Anders als die Ideologen in der  ÖVP, für die das Gymnasium „in Stein gemeißelt“ dargestellt wird, plädieren sie in ihren Reformvorschlägen für eine Gesamtschule bis zum Ende der Schulpflicht (siehe Bildungsprogramm der Industriellenvereinigung „Beste Bildung für die Zukunft: Bildung neu denken, Schule  besser leben“).

Die negativen Folgen der Spaltung des Schulsystems werden früher oder später allgemein bewusst werden. Insbesondere ist eine nachhaltige Reform der Volksschule nicht möglich, solange sie  eine Selektionsaufgabe wahrnehmen muss.  

Leider weist keine der beschriebenen Schultypen NMS und AHS eine gesamtschulgerechte Binnenstruktur auf, wie sie die Hauptschule noch geboten hat. Diese hatte durch die Leistungsgruppen für eine begabungsgerechte Förderung in den Kulturtechniken der Sprachen und der Mathematik  mit einer gemeinsamen Beschäftigung mit den aufzuschließenden Bereichen der Natur, Kultur und des Sozialsystems in den Realienfächern und den musischen Unterrichtsgegenständen verbunden.  

Es gilt nun ein neues Schulmodell  für eine Zusammenführung zu entwickeln. Dazu muss eine Kooperation der beiden Schultypen gefunden werden. Notwendig erscheint daher eine regionale Schulenzusammenarbeit von AHS und NMS. Gemeinsame Unterrichtsprojekte, insbesondere im Bereich der Unterrichtsprinzipien der Lehrpläne und in den musisch-technischen Lernbereichen, sind ebenso denkbar wie ein zeitweiliger Lehreraustausch. 

Diese Entwicklung wird durch die Reform der Lehrerbildung unterstützt. Eine einheitliche Sekundarlehrerausbildung für die Schulstufen 5 bis 13  ist in einer Zusammenarbeit von Pädagogischen Hochschulen und Universitäten vorgesehen. Das Statussymbol der universitären Lehrerbildung nur für die höheren Schulen geht  verloren. Alle Absolventen der neuen Lehrerbildung schließen ihr Studium mit der Master-Graduierung ab und führen  den gleichen Amtstitel „Professor“. Auch die gleiche  Ausbildung der  Lehrer könnte eine Zusammenführung unterstützen.  Man könnte aber auch auf die Erfahrungen in den bestehenden Schulverbunden, etwa in Graz-West, zurückgreifen. Die Novellierung der Schulgesetze („Autonomie-Paket“) hat die rechtlichen Möglichkeiten geschaffen, Schulcluster einzurichten.   

Das Ziel muss aber die gemeinsame Schule für alle Schülerinnen und Schüler bis zum Ende der Schulpflicht bleiben. Sie muss als Ganztagsschule geführt werden, um allen Schülern außerunterrichtliche Lernhilfe und sinnvolle Freizeitgestaltung zu bieten. Nur diese Schule kann eine bildungschancengerechte Schule sein. Die in den PISA-Untersuchungen aufgewiesenen Leistungsdefizite lassen sich reduzieren, wenn sich die Volksschule nicht mehr mit der Vorbereitung  eines Teils der Schülerinnen und Schüler auf den Übertritt in die AHS besonders beschäftigen muss. Sie kann dann der Unterstützung der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler mehr Beachtung schenken, um das Ziel der Volksschule zu erfüllen, „eine für alle Schüler eine für alle Schüler gemeinsame Elementarbildung zu vermitteln“ (Schulorganisationsgesetz  § 9).  

In der Gesamtschule der Sekundarstufe I können dann die Schüler auf die verschiedenen Bildungsgänge der Sekundarstufe II (studienvorbereitende AHS-Oberstufe, berufsbildende höhere und mittlere Schulen, Lehre mit  Berufsschule) differenziert vorbereitet werden. Damit würde das österreichische Schulsystem mit den Schulsystemen der meisten demokratischen Staaten in Süd, West- und Nordeuropa gleichziehen. Von mancher Seite wird argumentiert, dass die Einführung der Gesamtschule einen Zustrom zu den Privatschulen auslösen würde. Dem könnte entgegengewirkt werden, indem man die besondere staatliche Förderung der katholischen Privatschulen (Bezahlung der Lehrer durch den Staat) an die Führung als Gesamtschule mit einem bestimmten lokalen Einzugsbereich (Schulsprengel) bindet.

H.S.