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Die Schuleingangsphase in der Grundschule 1998 – 2019

von Willi Wolf
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Ein wesentlicher Brennpunkt der österreichischen Grundschule im ausklingenden zwanzigsten Jahrhundert ist die Schuleingangsphase. Gerade der erste Kontakt der Kinder mit der Schule ist vielfach mit Befürchtungen, Ängsten, Enttäuschungen und Misserfolgen verbunden. Die Reform des Schuleingangsbereiches war zwar schon seit den frühen 70er Jahren Thema, hat jedoch mit der Überführung der Schulversuche ins Regelschulwesen 1982 nicht zum gewünschten Erfolg geführt und die Ungleichheit der Bildungschancen verstärkt. Nur jedem vierten Kind wurde eine vorschulische Förderung zuteil, zu gering war die Organisationshöhe vieler Volksschulen, um Vorschulklassen einzurichten. Die im Gesetz vorgesehenen Vorschulgruppen für Volksschulstandorte mit geringerer Organisationshöhe wurden von den Eltern und Erziehungsberechtigten zu Recht nicht angenommen. Hier steht die Grundschule im schwer lösbaren Dilemma von wohnortnaher Beschulung und entsprechend qualitätsvoller Förderung zu Beginn der Schulpflicht.

Da die mit dem Schuljahr 1983/84 in Kraft getretene Reform mit Einführung der Vorschulklassen und Vorschulgruppen (1982) wenig erfolgreich war, wurden knapp zehn Jahre später wieder Schulversuche zum Schuleingangsbereich eingerichtet. In der Novelle zum Schulorganisationsgesetz (BGBl. Nr. 512/1993) wurden mit einem neu geschaffenen § 131 c „Schulversuche zum Schuleingangsbereich“ ermöglicht, in dessen Rahmen „bei der Klassenbildung flexible Formen für eine bedarfsgerechte, regional abgestimmte schulische Versorgung im Schuleingangsbereich zur individuelleren Förderung der Kinder“ erprobt werden konnten. In dieser Novelle wurden darüber hinaus die Aufgaben der Volksschule im § 9 Abs. 2 erweitert und neu gefasst: „Die Volksschule hat in den ersten vier Schulstufen (Grundschule) eine für alle Schüler gemeinsame Elementarbildung unter Berücksichtigung einer sozialen Integration behinderter Kinder zu vermitteln“.  Das hatte zur Konsequenz, dass mit dem Schuljahr 1993/94 alle Schülerinnen und Schüler eines Wohngebietes in die Volksschule aufgenommen werden konnten – auch Kinder mit Körper- und Sinnesbehinderungen. Um die Heterogenität einer solchen Schülergruppe als Herausforderung und Chance zu verstehen, bedarf es allerdings auch entsprechender Rahmenbedingungen, insbesondere personeller Ressourcen. Da nach wie vor die Schulreife – ein mittlerweile wissenschaftlich überholtes Konstrukt – als Instrument des Schulrechts existiert, wird von der österreichischen Volksschule trotz dieser Bestimmungen die Aufgabe der Volksschule nur sehr bedingt erfüllt, eine Schule für alle Kinder zu sein. Nicht das Kind sollte zu Beginn der Schulpflicht bestimmte Kriterien erfüllen müssen, um als „schulreif“ angesehen zu werden, sondern die Grundschule als Fundament der Bildung sollte die schulpflichtig gewordenen Kinder so aufnehmen wie sie sind, und nicht erst, wenn sie so sind, wie „die Schule“ sie gern hätte.
Fünf Jahre nach dieser Novelle des Schulorganisationsgesetzes wurde daher auf der Grundlage der „Schulversuche zum Schuleingangsbereich“ im Rahmen einer weiteren Novellierung, BGBl. I Nr. 132/1998, eine flexible Organisation der Volksschule im Bereich der Grundstufe I ermöglicht. § 12 Abs. 2 lautet: „Die Grundschule ist in der Grundstufe I

1. mit einem getrennten Angebot von Vorschulstufe (bei Bedarf) sowie 1. und 2. Schulstufe oder

2. mit einem gemeinsamen Angebot von Schulstufen der Grundstufe I zu führen.“

Seit dem Schuljahr 1999/2000 besteht damit für Kinder der Grundstufe I ein höheres Maß an Flexibilität bezüglich der zur Verfügung stehenden Lernzeit. Denn obwohl die Grundschule nur eine relativ kurze Dauer umfasst, fällt sie in eine lebensgeschichtlich sehr bedeutsame Phase. Die Grundschule muss eine Schule der Kinder sein und nicht Vorbereitungsschule für die weiterführenden Schulen oder zur Vorbereitung auf das (spätere) Erwachsensein. D. h. die Kinder werden so wie sie sind, ernst genommen und die Bildungsangebote werden entsprechend ihren individuellen Bedürfnissen und ihrem unterschiedlichen Lerntempo an sie herangetragen. Einen wichtigen Schritt, ohne Zweifel, stellte die oben zitierte Novellierung des Schulorganisationsgesetzes 1998 dar. Es steht aber auch außer Zweifel, dass dem Schritt von 1998 weitere hätten folgen sollen – allerdings nicht solche, wie sie mit dem Pädagogikpaket 2018 (BGBl. I Nr. 101/2018) nun Gesetz wurden und mit dem Schuljahr 2019/20 in Kraft treten werden. Stichworte dazu sind insbesondere Ziffernnoten und Wiederholen einer Schulstufe bereits ab der zweiten Schulstufe. Standardisierte Aufnahmetests für alle Kinder zu Beginn der Schulpflicht sollen ausgearbeitet werden. Allesamt Maßnahmen zuungunsten der Kinder. Barrieren, von denen man zu Recht glaubte, sie endgültig überwunden zu haben.

Dr. Willi Wolf

Entnommen aus "Brennpunkte der Schulentwicklung", Leykam 2019