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Rettet die Mittelschule!

von Helmut Seel
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Bundesminister Dr. Faßmann gibt der Pflichtschulvariante  des Mittelstufenbereichs den schulwissenschaftlich richtigen Namen, den die ÖVP 1983 der reformierten Hauptschule noch verweigerte: „Mitteschule“.   Die Bezeichnung „Neue Mittelschule“ war 2007 keine Erfindung der Unterrichtsministerin Dr. Schmied, sondern der Name eines Schulversuchs, der 1991 eingerichtet wurde und auf die verweigerte Umbenennung der Hauptschule Bezug  nahm.  Dr. Schmied glaubte 2007, diese Versuchsform auf breiter Basis einführen zu können. Sie scheiterte dabei – wie zu erwarten – am Widerstand der ÖVP, die nur wieder Schulversuche akzeptierte. Mit dem Namen „Neue“ Mittelschule versuchte man allerdings auch auf die „Alte“ Mittelschule hinzuzuweisen, jene Schule, die 1963 in die Allgemeinbildende höhere Schule (AHS) umgewandelt wurde. Die „Neue Mittelschule“ sollte den Status der alten Hauptschulen heben, wird doch  in der Umgangssprache die Bezeichnung „Mittelschule“ weiterhin auch  für Gymnasien und Realgymnasien verwendet.

Der Unterrichtsminister könnte aber von einer „Allgemeinbildenden  mittleren Schule (kurz AMS) sprechen, in der Unterscheidung  zur „Allgemeinbildenden höheren Schule“ (AHS). Allerdings ist dieses Kürzel bildungspolitisch verdächtig. Es wurde von den Sozialdemokraten  in der Ersten Republik  für „Allgemeine Mittelschule“ verwendet, einer Gesamtschule für die Mittelstufe des Schulsystems.

 Die Betonung der Allgemeinbildung ist für die Mittelschule von Relevanz, denn für die Mehrzahl  ihrer Schülerinnen und Schüler endet sie hier. Eine „grundlegende Allgemeinbildung“ hat sie ihnen vor der Beendigung der Schulpflicht zu vermitteln. Die Fähigkeit zum sinnerfassenden Lesen zählt dazu, ebenso wie  die Ausdrucksfähigkeit in der Unterrichtssprache Deutsch, für manche Schüler die Muttersprache, für andere die erste Fremdsprache. Die 1. (oder 2.) Fremdsprache sollte zu einer gewissen Verständnisfähigkeit geführt haben, um zumindest die Fülle der Anglizismen in der deutschen Sprache zu hinterfragen und Gebrauchsanweisungen lesen und verstehen zu können.  Neben der Beherrschung der Rechenoperationen des Alltags (u. a . Prozentrechnen zur Abschätzung von Lohn- und Preisveränderungen) gehört zur mathematischen Grundbildung auch das Verständnis für große Zahlen und für statistische Darstellungen in den Medien. Dazu kommt: Verständnis für unseren Planeten Erde mit seinen Klimazonen und unterschiedlichen Lebensbedingungen für die verschiedenen Menschen mit ihren Lebensbedürfnissen – Verständnis für die Entwicklung des friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Staaten und Nationalitäten und der Pflege der demokratischen Verfassung, welche Gleichberechtigung und Freiheit sichert – Verständnis für das Phänomen „Leben“ in der Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt und seiner Erhaltung – Verständnis für die physikalischen und chemischen Gesetzmäßigkeiten, die uns in der Umwelt begegnen – Entdeckung verschiedener Formen des künstlerischen Ausdrucks (Form, Bild, Bewegung, Sprache).

Zur Bildungsaufgabe kommt die Integrationsfunktion der Mittelstufenschule. Im gemeinsamen Aufwachsen der Kinder aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen entsteht gegenseitiges Verständnis als Basis gleichberechtigten Zusammenlebens im staatlichen System.  Für die Pflichtschulvariante der Mittelschule lässt sich die Integrationsaufgabe spezifizieren: Integration der behinderten Kinder, mit dem Begriff „Inklusion“ angesprochen. Und: Integration der Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und die außerhalb der Schule in fremden kulturellen Familien und Verbänden leben.

Gleichzeitig hat die allgemeinbildende Mittelschule  auch auf den Übertritt in weiterführende höhere und mittlere Schulen vorzubereiten. Die Mittelschule ist der „zweite Bildungsweg“ für befähigte Kinder, deren Eltern einen Übertritt in die AHS nach

der 4. Schulstufe der Volksschule nicht wahrnehmen konnten oder wollten. Der Mittelschule kommt daher neben der Integrations- auch eine Selektionsfunktion zu. Dies  erfordert Maßnahmen zur Leistungsdifferenzierung. Die Neue Mittelschule konnte dieser Aufgabe nicht ausreichend gerecht werden. Die Beurteilungsdifferenzierung in der 7. und 8. Schulstufe zwischen „grundlegender“ und „vertiefter“ Algemeinbildung“ in den Sprachen und in der Mathematik im Rahmen des Unterrichts in den leistungsheterogenen Stammklassen überfordert die Lehrer.  Die Intransparenz der Leistungsbeurteilung führt aus Unsicherheit oder auf Grund des Elternwunsches zur großzügigen Zuerkennung der Übertrittsberechtigung in die höheren  Schulen. Die Lehrer an den berufsbildenden höheren Schulen geben an, darunter zu leiden, und klagen über geringe Kenntnisse und mangelhafter Leistungsmotivation

Abgesehen von der Unsinnigkeit der Verwendung  des Begriffs „Allgemeinbildung“ für eine solide Grundlegung des Lernens in den Sprachen und in der Mathematik für den Unterricht in der Oberstufe der höheren (vor allem berufsbildenden)  Schulen ist anzumerken, dass die „vertiefte“ Allgemeinbildung eine Aufgabe der Oberstufenschulen ist. Es macht daher Sinn, wenn der Unterrichtsminister plant, die entsprechend  befähigten Schülerinnen und Schüler zusammenzufassen und in den Sprachen und in der Mathematik nach dem Lehrplanniveau der AHS-Unterstufe zu unterrichten. Leider ist Genaueres noch nicht bekannt: Generelle oder fachspezifische Gruppierung? Stabile Gruppen innerhalb des Klassenverbandes im Zweilehrer-System oder klassenverbandsübergreifende Leistungsgruppenbildung ? Entscheidungshilfen können die einschlägige Forschungs- und Erfahrungsberichte in ausreichendem Maß anbieten!            

Der Unterrichtsminister sollte im Zuge der notwendigen Novellierung des Schulorganisationsgesetzes endlich auch die international übliche Gliederung des Sekundarbereichs in Sekundarstufe I und Sekundarstufe II einführen, von der im neuen Lehrerdienstrecht bereits Gebrauch gemacht wird (vgl. UNESCO: International Standard Classification of Education, Level 2 bzw. Level 3). Damit wäre auch der Verfassungsauftrag gemäß Artikel 14, Abs. 6a B-VG erfüllt, nämlich dass neben der Gliederung in allgemeinbildende und berufsbildende Schulen bei den Schulen des Sekundarbereichs eine angemessene weitere Differenzierung vorzusehen ist. Eine nicht unwichtige flankierende Maßnahme zur weiteren Entwicklung der Mittelschule und eine wichtige bildungspolitische Aufgabe der SPÖ!

H.S.