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Das Lehrplanpaket 2022 – ein Belastungspaket mit vielen Fragezeichen

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Bereits mit der BGBl 170/2021 hat die Schwarz-grüne Koalition dem damaligen  Minister Fassmann die Möglichkeit geschaffen, die Lehrpläne in Zukunft auf der Grundlage von Kompetenzmodulen zu gestalten. Eine öffentliche Diskussion des Für und Widers einer solchen Entwicklung ist nicht erinnerlich, die Opposition hat die Angelegenheit entweder verschlafen oder als wissenschaftliche Spitzfindigkeit abgetan. Wir haben kritisch Stellung genommen! Siehe www.bpag.at „Eine Lehrplanreform – von harmlos keine Spur!“, Juni 2021.

Minister Fassman ging das Thema jedenfalls mit großem Eifer an. Die Arbeit an den Lehrplänen läuft seit 2018,  ab 2023 sollen die Ergebnisse in Kraft treten. Seinem Nachfolger, Minister Pollaschek,  blieb nicht viel mehr überlassen, als das betreffende  Lehrplanpaket zum bemerkenswerten Termin August bis September 2022 in eine extrem kurze Begutachtung (8 Wochen!) zu schicken. Und diese viel zu kurze Begutachtungszeit steht in einem klaren Widerspruch zum Umfang des Paketes und den hohen Ansprüchen, die vom Minister selbst an diese Lehrpläne gestellt werden.  Man fragt sich „Wozu diese Eile?“ und kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man um manche Schwächen des Lehrplanpaketes Bescheid weiß und der Kritik nur wenig Raum geben will. 

In die Begutachtung gegangen sind die Lehrpläne für den Primarschulbereich sowie den gesamten Bereich der Sekundarstufe I, also der Unterstufen der allgemeinbildenden höheren Schulen, und der Mittelschulen. Und das, was man inhaltlich mit diesem Lehrplanpaket verspricht, ist auch nicht gerade wenig: Zum einen  geht es  „ um die Aktualisierung der Lehrpläne im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen“, zum anderen „um eine durchgängige Strukturierung der Lehrpläne in Richtung einer sogenannten Kompetenzorientierung “. Die folgenden Überlegungen befassen sich primär und grundsätzlich mit der Frage einer kompetenzorientierten Lehrplanentwicklung.

Versuch einer Begriffsklärung

Im Einleitungskapitel des Lehrplanes (Allgemeiner Teil) werden Kompetenzen unter Bezug auf § 8 des Schulorganisationsgesetzes definiert: „Unter Kompetenzen sind längerfristig verfügbare kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verstehen, die von Schülerinnen und Schülern entwickelt werden und die sie befähigen, Aufgaben in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsbewusst zu lösen und die damit verbundene motivationale und soziale Bereitschaft zu zeigen.“  In der Formulierung der dem Lehrplanpaket angeschlossenen Erläuterungen sollen „kompetenzorientierte Lehrpläne konkret angeben, was Schülerinnen und Schüler können sollen und an welchen fachlichen, überfachlichen und fächerübergreifenden Kompetenzen im Unterricht zu arbeiten ist“.

 Mit anderen Worten: Im Mittelpunkt kompetenzorientierter Lehrpläne stehen zunächst einmal nicht die Lehrstoffe ( Lerninhalte, Themen des Unterrichts, Anwendungsbereiche), sondern die Kompetenzen, die als  Ergebnis der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Lehrstoffen erworben werden.  Kompetenzorientierung will also Handlungs- und Problemlösefähigkeit in unterschiedlichen Lebensbereichen erzielen. In vielen Fällen besteht also keine strikte Bindung zwischen den  Kompetenzzielen und bestimmten Lehrstoffen / Anwendungsbereichen. Welche Kompetenzen in der Auseinandersetzung mit welchen Stoffen erworben werden können, ist in einem  gewissen Ausmaß diskutierbar.

Ganz allgemein kann gesagt werden, dass in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion das Konzept  „kompetenzorientierte Lehrpläne“ keinesfalls unbestritten ist. Allerdings mag ein Vorteil der Kompetenzorientierung  darin zu sehen sein, dass in der Auseinandersetzung darüber,  welche Kompetenzziele mit welchen  Lehrstoffen / Anwendungsbereichen  erworben werden können, sehr nützlich  sein kann. Sie erlaubt  eine gewisse Flexibilität und eröffnet die Chance auf ein Abweichen von den traditionellen Stoffkatalogen.

Wie wird diese Frage nun in den vorliegenden Lehrplan-Entwürfen behandelt?

Durchgängiges Merkmal der neuen Lehrpläne ist die Gegenüberstellung bzw. Zuordnung von Kompetenzbeschreibungen (Kompetenzen, die am Ende eines Unterrichtsjahres alle SchülerInnen vermittelt bekommen und erworben haben) zu Anwendungsbereichen (die für den jeweiligen Unterrichtsgegenstand typischen Inhalte / Lehrstoffe  aus den  verschiedenen fachspezifischen Feldern).

 Verbindlich oder unverbindlich, das ist hier die Frage!

Was nun das Verhältnis von Kompetenzzielen und Arbeitsbereichen in den vorliegenden Lehrplanentwürfen betrifft, so ist eine grundsätzliche Unklarheit über das Ausmaß der Verbindlichkeit zu konstatieren. Während es in  den offiziellen Erläuterungen des Ministeriums bei den „Anwendungsbereichen“ heißt,  „sie müssen verbindlich im Unterricht behandelt werden“, steht dazu im eigentlichen Lehrplanentwurf (Allgemeiner Teil) nichts von einer Verbindlichkeit.

Allerdings sprechen dann einzelne Fachlehrpläne, nämlich jene in Deutsch, Chemie, Biologie sehr wohl von dieser „Verbindlichkeit“, Mathematik unterscheidet zusätzlich zwischen verbindlichen und „allenfalls“ verbindlichen Anwendungsbereich. In allen anderen Fachlehrplänen taucht der Begriff überhaupt nicht auf. Generell vermisst man – mit der Ausnahme Mathematik – Hinweise auf einen flexiblen Umgang im Sinne von Stoffeinschränkungen oder offenen Lernfeldern, die klassen- oder schulbezogen genützt werden können.

Das ist natürlich ein unhaltbarer Zustand, auch wenn man vermuten kann, dass im Regelfall eher an eine „Verbindlichkeit“ gedacht ist. Möglicherweise hat man sich damit Diskussionen über den Verzicht oder die Einschränkung bestimmter Stoffbereiche in den Arbeitsgruppen erspart. Das Thema der Flexibilität im Umgang mit den Arbeitsbereichen / Lehrstoffen ist aber bei kompetenzorientierten Lehrplänen zentral, weil sich ohnehin gravierende Fragen an das Zeitbudget stellen.

 Kompetenzorientierte Lehrpläne und neue Belastungen

Viele der Kompetenzziele brauchen, so schön sie auch formuliert sind, einen größeres Zeitbudget und auch einen hochklassigen Unterricht.  Dessen sind sich die Verantwortlichen – zumindest was die Unterrichtsqualität betrifft - offensichtlich auch im Klaren. Im Teil Zwei, Allgemeiner Teil des Lehrplans wird bei den „Merkmalen kompetenzorientieren Unterrichtes“ so ziemlich alles aufgelistet, was in der gegenwärtigen pädagogischen Literatur als „guter Unterricht“ gilt.

Kompetenzorientierte Lehrpläne sind daher in ihrer Kombination aus anspruchsvollen und überprüfbaren Zielformulierungen und den Erfordernissen eines qualifizierten Unterrichtes eine enorme Herausforderung für jede Schule. Schulen brauchen daher ein hohes Maß an Flexibilität im Umgang mit den Lehrstoffen /Arbeitsbereichen. Daher sind die vorliegenden Ungereimtheiten völlig unbefriedigend, denn sie setzen in der Mehrzahl der Fächer Kompetenzziele und Anwendungsbereiche gleichermaßen für bindend und setzen noch dazu höchste Erwartungen an einen qualitätvollen Unterricht. Von Auswahlentscheidungen und Schwerpunktsetzungen ist im vorliegenden Entwurf  nicht einmal andeutungsweise die Rede. Und von einer Unterscheidung zwischen Kern- und Erweiterungsbereichen – in den geltenden Lehrplänen noch verankert – wurde sogar Abstand genommen.

Hinzu kommen noch die Belastungen, die sich aus der Aufgabe einer regelmäßig durchzuführenden Evaluation des erreichten Lernstandes ergeben. Im Teil Zwei /Allgemeine Bestimmungen / Kennzeichen kompetenzorientierten Unterrichtes heißt es:

„Die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer ist es, einen Rahmen bzw. Lernumgebungen zu gestalten, die die zielorientierte Entwicklung von Kompetenzen ermöglichen. Die Evaluierung der Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler innerhalb dieses gesetzten Rahmens sowie das Vornehmen adäquater Anpassungen des Rahmens, sofern Lernergebnisse von Schülerinnen und Schülern ausbleiben, haben regelmäßig und systematisch zu erfolgen.“

Statt weiterer  Beispiele eine Diagnose: Was diesen Lehrplänen unter anderem fehlt, das ist ein sich selber ernst nehmender operativer Teil, der sich mit den komplexen Aufgaben der Planung und Verwirklichung von Unterricht unter realistischen Bedingungen auseinandersetzt und Hinweise für eine strukturierte Bewältigung im Lehrerteam gibt bzw. auf konkrete interne und externe Formen der Unterstützung hinweist.  Eine entscheidende Schwäche der Lehrplanentwürfe besteht darin, dass sie im Bereich der Lernorganisation, bei den Stundentafeln, bei der Fächerorganisation, bei der  Schulautonomie nichts Neues anzubieten hat, sondern nur „Uralt-Bürokratie“. Siehe beispielsweise die Ausführungen des Lehrplanes im Fünften Teil / Organisatorischer Rahmen.

 Eine neue Steuerungsphilosophie mit neo-liberalem Touch

Bei einer Gesamtbeurteilung des Lehrplanpaktes sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Kompetenzorientierung auch Ausdruck einer neuen Steuerungsphilosophie der zentralen Schulverwaltung ist. Wenn die Politik wissenschaftliche Modelle in die Hand nimmt, dann verfolgt sie meistens Absichten, die einer politischen Logik und einem politischen Prozess entsprechen. Lehrpläne an sich sind ein eher überschätztes Steuerelement, aber in Verbindung mit approbierten Schulbüchern, einer entsprechend instruierten Schulaufsicht (jetzt Qualitätsmanagement) und den Leistungsbeurteilungsregelungen in Gesetzen und Verordnungen ist ein Instrumentarium vorhanden, das außerordentlich wirkmächtig  ist und – einmal in Gang gesetzt - kaum eine kritische Reflexion der gewollten und ungewollten Nebenwirkungen erlaubt. Das wird auch ziemlich unverhohlen in den Erläuterungen zum Gesetzestext, mit dem die Kompetenzorientierung gesetzlich grundgelegt wurde,  ausgedrückt. Die Lehrpläne  „informieren darüber, über welche Kompetenzen alle Schülerinnen und Schüler am Ende eines Schuljahres verfügen sollen. Sie ermöglichen dadurch eine transparente und nachvollziehbare Kommunikation zwischen den Beteiligten über den Unterricht, die zu erwerbenden und tatsächlich erworbenen Kompetenzen und erbrachten Leistungen und damit letztlich auch über die Leistungsbeurteilung.“

Diese „Erläuterung“ bestätigt jene Sorgen, die schon lange mit Bezug auf eine Kompetenzorientierung geäußert wurden. Es droht eine systematische, enge Verklammerung von vorgegebenen, verbindlichen Kompetenzkatalogen und einer Leistungsbeurteilung auf der Basis von Testverfahren. Die Folge davon ist, dass die  riesigen Unterschiede, die zwischen den Schulen aufgrund unterschiedlicher Schülerpopulationen, differenter sozialer Umfeldbedingungen und einer wechselnden  Unterrichtsqualität bestehen, systematisch übersehen, verdeckt und geleugnet werden, nur um einem „teaching to the test“  zu dienen. Ein Leisten für alle Füße hat noch nie funktioniert!

K.S.