« vorheriger Artikel | Home | nächster Artikel »

Helmut Seel / Schulübertritt nach der Volksschule

von Helmut Seel
Artikel drucken

Die Bedeutung der Schulnoten bereits im Halbjahreszeugnis der vierten Klasse der Volksschule bei der Anmeldung in die verschiedenen Schulen für die Zehn- bis Vierzehnjährigen hat aus aktuellem Anlass zur Kritik am österreichischen Schulsystem geführt. Mit Recht klagen viele Eltern über die Notwendigkeit der Unterstützung der Kinder bei den teilweise recht umfangreichen Hausübungen. Das Üben wird weitgehend dem außerunterrichtlichen Bereich zugeschoben. Im namhaften Ausmaß wird bereits für Volksschülerinnen und Volksschüler Nachhilfeunterricht als notwendig erachtet. Der Kampf um gute Schulnoten beginnt genau genommen bereits auf der ersten Schulstufe und behindert die Volksschule bei der Erfüllung ihrer Aufgabe als Grundschule im funktionalen Zusammenhang des gesamten Schulsystems. Außerdem sind Konflikte zwischen Eltern und Lehrern vorprogrammiert.

Diese Funktionalität steht in Zusammenhang mit der international üblichen Gliederung der Schulsysteme (International Standard Classification of Education/ISCED der UNESCO) in Primarstufe (level 1), Sekundarbildung Unterstufe - Sekundarstufe I (level 2) und Sekundarbildung Oberstufe - Sekundarstufe II (level 3). Im österreichischen Schulsystem bildet die Volksschule mit ihren Schulstufen 1 bis 4 den Bereich der Primarbildung, die Schulstufen 5 bis 8 bilden die Sekundarstufe I (Mittelstufe des Schulsystems) und die Schulen für die 15- bis 19-Jährigen den Bereich der Sekundarstufe II.

Die Primarstufe des Schulsystems hat die allgemeine Lernförderung unter Berücksichtigung der vor- und außerschulischen Bedingungen zu leisten. Dies bedeutet die individuelle Unterstützung des Erlernens der Kulturtechniken (Sprache, Schrift, Zahlensystem) unter Anwendung erprobter und wissenschaftlich fundiertert Lehrmethoden, die ganzheitliche Erkundung der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt sowie die Einführung in die Möglichkeiten der sprachlichen, bildhaften und bewegungsmäßigen Gestaltung. Die bestmögliche Anregung und Unterstützung der Lernprozesse der einzelnen Schüler und Schülerinnen sowie die Sicherung der jeweiligen Lernergebnisse ist die Aufgabe der Volksschullehrerin/ der Volksschullehrers.

Die Lernziele sind in der Volksschule für alle Schüler und Schülerinnen die gleichen. Unter Anwendung der verschiedenen Lehrverfahren und mit unterschiedlichem Zeitaufwand - im Bedarfsfall bietet das Vorschuljahr ein zusätzliches Lernjahr zu den vier Schulstufen der Volksschule - wird die Erreichung dieser Lernziele angestrebt. Der Primarstufe sollte im Hinblick auf ihre Funktionalität keine Selektionsfunktion zugeordnet werden. Beurteilt werden vielmehr der individuelle Lernfortschritt und die dafür aufgewendeten Bemühungen, durchaus auch in vergleichender Betrachtung. Dies ist die Voraussetzung für die Individualisierung des Unterrichts und für ein stressarmes Schulklima.

All die angeführten Probleme wären vermeidbar, wenn der Schulbereich für die Zehn- bis Vierzehnjährigen, die Sekundarstufe I, die Mittelstufe im österreichischen Schulsystem, als differenzierte Gesamtschule organisiert wäre. Die bestehenden Klassenverbände der Volksschule treten geschlossen in die Sekundarschule (Mittelschule) übrt. Als Gesamtschule kann sie die Selektionsfunktion übernehmen, indem sie die Schülerinnen und Schüler schrittweise in fachspezifische Leistungsgruppen in den Sprachen und in Mathematik einteilt, zwischen denen im Bedarfsfall Überstellungsprozesse stattfinden können (Auf- und Abstufungen). In den unterschiedlichen Leistungsgruppen werden die Lehrmethode und die Anforderungshöhe in der Aufgabenstellung an die Leistungsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen angepasst. An der Leistungsbeurteilung ist das gesamte Lehrerteam der parallel laufenden Leistungsgruppen beteiligt; die Objektivität der Beurteilung wird dadurch erhöht.

Am Ende der Mittelstufe, der achten Schulstufe, steht das Befähigungs- und Interessenprofil der einzelnen Schülerinnen und Schüler fest. Darauf können dann Entscheidungen bezüglich der weiteren Bildungslaufbahn aufbauen. Verfrühte und damit fragwürdige Schullaufbahnentscheidungen am Ende der Volksschule, die in erster Linie vom Bildungsbewusstsein und den Standesinteressen der Eltern bestimmt werden, können dadurch vermieden werden.

Die Möglichkeit einer pädagogisch akzeptablen Gestaltung der Selektionsprozesse ist zweifellos einer der Gründe dafür, dass in nahezu allen europäischen Staaten die Sekundarstufe I des jeweiligen Schulsystem als Gesamtschule eingerichtet ist. Die PISA-Studien haben ergeben, dass dadurch keine Minderung der Schulleistungern eingetreten ist.

Weitere Motive, die für eine Gesamtschule auf der Sekundarstufe I sprechen, sind
- Die schrittweise Umgestaltung des erlebnis- und erfahrungsorientierten Gesamtunterrichts der Volksschule zum wissenschaftsorientierten Unterricht in den einzelnen Lernbereichen (Unterrichtsfächern) durch Fachlehrer.
- Die Verbesserung der Bildungschancen der Heranwachsenden aus sozial und regional venachteiligten gesellschaftlichen Bereichen.
- Die bessere Möglichkeit der bereits erwähnten Entscheidungen über die Bildungslaufbahnen in der Oberstufe (Sekundarstufe II) in der Bandbreite von beruflicher Lehre, unterschiedlicher schulischer Berufsvorbereitung und Studienvorbereitung in der gymnasialen Oberstufe.
- Die Erfüllung der sozialintegrativen Aufgabe des Schulsystems im Sinne der Zusammenführung von Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppen, der Entwicklung gegenseitigen Verständnisses sowie zur Sicht der gleichen Verpflichtungen gegenüber dem demokratisch-politischen System.
- Die weitere Entwicklung der Allgemeinbildung als Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in persönlichen und gesellschaftlichen Problemsituationen.

Zurück zur aktuellen Problematik der Schuleinschreibungen: Nur die Verlagerung der schulischen Selektionsprozesse in eine als leistungsdifferenzierte Gesamtschule gestaltete Sekundarstufe I ermöglicht eine den pädagogischen Zielen entsprechende Gestaltung der Volksschule als Stätte einer allgemeinen Grundbildung.