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Helmut Seel / Die "Langform" der allgemeinbildenden höheren Schule (AHS) als Hindernis der Schulreform in Österreich

von Helmut Seel
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Die PISA-Berichte haben für den Mittelstufenbereich des österreichischen Schulsystems (Sekundarstufe I, in Österreich Schulen für die 10- bis 14-Jährigen) Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten aufgewiesen und Reformdebatten (insbesondere hinsichtlich der Einführung einer international üblichen Gesamtschulstruktur) ausgelöst.

Aus den Augen geraten ist dabei ein ebenso wichtiges Problemfeld des österreichischen Schulsystems, die Oberstufe der allgemeinbildenden höheren Schule (AHS). Der TIMSS-Bericht (Third International Mathematics and Science Study) hat 1996 hat für die Oberstufe (Sekundarstufe II) in Österreich schlechte Leistungsergebnisse in Mathematik und Physik im internationalen Vergleich aufgedeckt. Auf Leistungsdefizite auch in anderen Unterrichtsfächern (Wissenschaftschaftsbereichen) kann auf Grund der Schulstruktur geschlossen werden.

Die derzeitige Organisation der AHS-Oberstufe verhindert weitgehend die Förderung und Entwicklung individueller Begabungsschwerpunkte. Vielmehr erfordert ein breiter Pflichtfächerbereich in erster Linie Anstrengungen zum „Überleben“ in alle den Fächern, in welchen sich auf Grund geringerer bereichspezifischer Leistungsfähigkeit Lernschwierigkeiten ergeben. Die Abwehr der Schulstufenwiederholung (des „Sitzenbleibens“) steht im Vordergrund, nicht die Pflege oder der Ausbau von Interessen- und Befähigungsschwerpunkten zur Vorbereitung auf das Hochschulstudium.

Die „Langform“ der allgemeinbildenden höheren Schule erweist sich immer deutlicher als das zentrale Hindernis bei der Modernisierung des österreichischen Schulsystems im internationalen Vergleich. In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts ist die traditionelle Schulform des „langen“ Gymnasiums weitgehend obsolet geworden. In nahezu allen europäischen Schulsystemen wurde die Sekundarstufe I (der Schulbereich nach Absolvierung der Grundschule bis zum Ende der Schulpflicht meist mit dem 16.Lebensjahr) vereinheitlicht und als Gesamtschule mit allgemeinbildender Aufgabe eingerichtet. Im Bereich der Sekundarstufe II wurden neben berufsbildenden Schulen eigene studienvorbereitende Schulformen eingerichtet (vgl. etwa Frankreich: Collège – Lycèe). Aber auch in Deutschland, wo man wohl aus konservativen gesellschaftspolitischen und bildungsideologischen Gründen noch immer am neunklassigen Gymnasium neben anderen Schultypen festhält, wurde die „Gymnasiale Oberstufe“ (7. – 9. Gymnasialklasse, Schulsystemstufen 11 – 13) strukturell und funktional umgestaltet und von der Schulform der gymnasialen Mittelstufenschule deutlich getrennt.

Das Gymnasium hat sich auch in Österreich – wenngleich nicht in gleichem Maß neuhumanistisch konzipiert wie in den deutschen Ländern – im 19.Jahrhundert zur Standesschule der privilegierten „gebildeten“ Mittel- und Oberschicht der Gesellschaft entwickelt. Es war nur über eine Aufnahmeprüfung zugänglich und sein Besuch an die Bezahlung von Schulgeld gebunden. Es kann daher nicht überraschen, dass die Sozialdemokraten bereits in der Ersten Republik mit dem Demokratisierungs-Motto „Die ganze Schule dem ganzen Volk!“ die Einführung eine „Allgemeinen Mittelschule“ für die 10- bis 14-Jährigen forderten und die Hinführung zur Matura einer eigenen Oberschule zuordnen wollten. Dies führte zum schulpolitischen Kompromiss 1927 mit der Einführung der Hauptschule als einer Art allgemeiner Mittelschule neben den bestehen bleibenden Unterstufen der traditionellen Mittelschulen (Gymnasium, Realgymnaium, Realschule, Frauenoberschule). Diese Struktur kennzeichnet das österreichische Schulsystem noch heute, auch wenn 1962 die traditionellen Mittelschulen in einer Orientierung am deutschen Gymnasium in „höhere Schulen“ umbenannt wurden.

In Österreich wurden bereits ab 1971 – ausgelöst durch den OECD-Bericht „Bildungsplanung und Wirtschaftswachstum in Österreich 1965 – 1975“ – Schulversuche zur Umgestaltung der AHS-Oberstufe durchgeführt. Sie zielten in mehreren Modellen auf die Reduzierung des Pflichtfächerkanons, die Einführung von Leistungsdifferenzierung in diesem Bereich und auf die Ermöglichung der individuellen Schwerpunktsetzung und Profilbildung durch Wahlpflichtfächer in einem Kurssystem an Stelle der traditionellen Schultypen ab. Die Klassenwiederholung (das Repetieren) sollte durch die flexiblen Strukturen eines modularen Sytems abgeschafft werden, eine zeitlich verteilte Ablegung der Reifeprüfung wurde erprobt.

Bei der Reform der AHS-Oberstufe im Jahr 1988 hat die ÖVP weitreichende Veränderungen trotz ermutigender Schulversuchsergebnisse verhindert. Die bestehenden Schultypen mit ihrem System der Schulstufenklassen blieben erhalten, und damit auch die Praxis der Schulstufenwiederholung, des „Sitzenbleibens“. Das beschränkte Ausmaß an Wahlpflichtfächern erlaubt kein orientierendes Ausgreifen über den traditionellen Fächerkanon hinaus auf andere studienrelevante Wissenschaftsbereiche. Das Leitmotiv der ÖVP war das Festhalten an der strukturellen Ähnlichkeit von Unterstufe und Oberstufe der AHS im Interesse der Erhaltung einer einheitlichen „Langform“ als Wahl- und Standesschule außerhalb des Bereichs der Pflichtschulen.

Der kontinuierliche achtjährige Bildungsgang der AHS-Langform ist jedoch längst eine Fiktion: Nur rd. 60 % der Unterstufenschüler setzen ihre Schullaufbahn in der Oberstufe der AHS fort und werden dort häufig schultypenspezifisch umgruppiert, mehr als 5 % der Hauptschüler wechseln in die AHS-Oberstufe. 40 % der Schüler der AHS-Unterstufe treten in berufsbildende Oberstufenschulen über.

Die Blockade der Schulreform durch die Institution der AHS-Langform sollte angesichts PISA und TIMSS beendet werden. Folgende Maßnahmen erscheinen erforderlich:

- Die AHS-Langform ist in zwei Schulformen zu teilen, in eine allgemeinbildende „Mittelschule“ und in eine studienvorbereitende „Oberschule“ (Gymnasiale Oberstufe).

- Die „Mittelschule“ erhält eine eigene Leitung. In ihr unterrichten die für die pädagogischen und didaktischen Aufgaben der Mittelstufe (Sekundarstufe I) besonders interessierten und qualifizierten Lehrer.

- Der „Mittelschule“ sind spezifische Aufgaben im Schulsystem zugeordnet: die Gestaltung des Übergangs vom erlebnis- und erfahrungsorientierten Gesamtunterricht der Volksschule zum wissenschaftsorientierten Unterricht in Fachbereichen durch Fachlehrer; die Entdeckung und Entwicklung der individuellen Interessen- und Befähigungsbereiche der Schüler zur Vorbereitung der Entscheidungen über die Bildungslaufbahnen der Sekundarstufe II, verbunden mit aufbauenden Maßnahmen zur Leistungsdifferenzierung; die Förderung der Allgemeinbildung als Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in persönlichen und gesellschaftlichen Problemsituationen.

- Die „Mittelschule“ ist als Pflichtschule einzurichten. Entsprechend den Verpflichtungen Österreichs in internationalen Verträgen ist sie daher schulgeldfrei zu besuchen. Sie steht allen Absolventen der 4. Klasse der Volksschule offen.

- Die „Mittelschule“ stimmt in den Bildungsaufgaben mit der Hauptschule überein. Dies kommt in den bereits bestehenden wortidenten Lehrplänen zum Ausdruck.

- Die gymnasiale Oberstufe („Oberschule“, Sekundarstufe II) führt in ihrer 1. und 2. Klasse (9. und 10. Schulstufe) den derzeit für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtenden Fächerkanon mit leistungsdifferenzierenden Maßnahmen weiter und bietet erste profilbildende Schwerpunktsetzungen an.

- In ihrer 3. und 4. Klasse (11. und 12. Schulstufe) wird der Klassenverbandsunterricht weitgehend in verschiedene Grund- und Leistungskurse aufgelöst, welche die Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihre Studienabsichten wählen. Abstimmungen mit der Gestaltung der Studieneingangsphasen in verschiedenen Studienrichtungen an den Universitäten sollten möglich sein.

- Die punktuelle Reifeprüfung am Ende der 4.Klasse (12.Schulstufe) wird durch eine zeitlich flexiblere Prüfungsgestaltung ersetzt, die Fachbereichsarbeit wird als verpflichtender Bestandteil der Reifeprüfung eingeführt.

- Im Lehramtsstudium an der Universität sind hinsichtlich der Ausbildung zum Mittelstufenlehrer bzw. zum Lehrer für die Sekundarstufe II (Gymnasiale Oberstufe, berufsbildende Schulen) Schwerpunkte zu setzen: Bakkalaureatsstudium zum Fachlehrer für zwei Unterrichtsfächer für die Mittelstufe (Sekundarstufe I) und optionales anschließendes Magisterstudium auch zum Fachlehrer für die Oberstufe des Schulsystems (Sekundarstufe II).