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Helmut Seel / Auf dem Weg zur "Verländerung" des österreichischen Schulsystems ?

von Helmut Seel
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Hitzige Debatten sind im Gange. Sprecher der Landeshauptleute fordern im Zuge der Verwaltungsvereinfachung mehr Kompetenzen der Bundesländer ein: Zuständigkeit für die Lehrer aller Kategorien statt der Kompetenzaufspaltung in Landeslehrer (Pflichtschulen) und Bundeslehrer (mittlere und höhere Schulen) - Zuständigkeit für die „äußere Organisation (Aufbau, Organisationsform, Errichtung, Erhaltung, Auflassung, Sprengel, Klassenschülerzahlen, Unterrichtszeit)" nicht nur der Pflichtschulen, sondern für den gesamten Schulenbereich. Dieser Forderung wird mit Recht umfassender Widerstand der Bundesregierung, der Unterrichtsministerin, der Lehrer und der Elternorganisationen entgegengesetzt.

Dabei bleibt außer Beachtung, dass infolge einer fragwürdigen Basisorientierung der Schulentwicklung ein Prozess der Verländerung des Mittelstufenbereichs des Schulsystems in Gang gekommen ist: die Entwicklung der Neuen Mittelschule. Das Bundesministerium hat für die einzelnen Bundesländer auf Antrag unterschiedliche Modellpläne verordnet. Die Unterschiede ergeben sich aus den knappen Minimalvoraussetzungen für die Schulversuche mit der Neuen Mittelschule: „Keine Aufnahmekriterien - Gemeinsamer Unterricht von Hauptschul- und AHS-Lehrkräften - Keine äußere Fachleistungsdifferenzierung - Orientierung des Unterrichts in Deutsch, lebender Fremdsprache und Mathematik an den Bildungsstandards - Konzept für ein Öffnung der Schule".

Nicht ausdrücklich angeführt wurde - weil vermutlich als selbstverständlich erachtet - der Gesamtschulcharakter der Neuen Mittelschule. Sie soll eine neue Form der gemeinsamen Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen darstellen, wie die Bundesministerin Dr. Schmied bei ihrer Vorstellung der Neuen Mittelschule festlegte, und damit die Hauptschule und die AHS-Unterstufe ersetzen.

Die knappen Rahmenvorgaben für die Neue Mittelschule führten zu teilweise recht unterschiedlichen Modellplänen der Bundesländer. Sie werden dem Gesamtschulcharakter der neuen Schulart sehr unterschiedlich gerecht.

Eindeutig als Gesamtschule versteht sich die „Wiener Mittelschule". Sie setzt sich aber über die Vorgabe des Vermeidens einer äußeren Leistungsdifferenzierung hinweg, indem sie den Unterricht in Kernkurse (zwei Drittel der Unterrichtszeit, Zweilehrersystem) und Erweiterungskurse (ein Drittel der Unterrichtszeit) gliedert. Die Erweiterungskurse bieten entweder Wiederholung und Übung des Lehrstoffes oder Ergänzungen und Weiterführungen des Lehrstoffes („Erweiterung" im eigentlichen Sinn). Weiters sind Wahlkurse in der 3. und 4. Klasse (7. und 8. Schulstufe) vorgesehen, welche die AHS-adäquaten Zusatzfächer anbieten (z. B. die zweite lebende Fremdsprache als Voraussetzung für die gymnasiale Oberstufe). Eine zusammenfassende Beurteilung (Kursteilnahme, Wahlfächerbesuch) führt zu den Übertrittsberechtigungen für den Oberstufenbereich.

Den Gesamtschulcharakter beachtet im Gegensatz dazu die „Vorarlberger Mittelschule" nicht. Sie legt der Unterrichtsarbeit die derzeitige Leistungsniveaudifferenzierung (drei Leistungsebenen, „Leistungsgruppen") des Mittelstufenbereichs zu Grunde, unabhängig von der äußeren Organisationsform. Es gilt der Lehrplan des Realgymnasiums. Schüler, die diesen Anforderungen nicht entsprechen können, werden nach niedrigeren Leistungsniveaustufen beurteilt. Nach der 4. Klasse (8. Schulstufe) erhalten nur die Schüler, die nach dem AHS-Lehrplan erfolgreich sind, ein Zeugnis der Vorarlberger Mittelschule. Alle anderen Schüler erhalten ein Hauptschulzeugnis mit Berücksichtigung der Leistungsniveaugruppen. Das Zeugnis der Vorarlberger Mittelschule berechtigt zum Übertritt in die Oberstufe des Realgymnasiums bzw. bei Absolvierung der zweiten Fremdsprache als Wahlfach für die Oberstufe des Gymnasiums. Neben der Vorarlberger Mittelschule stehen daher zwei weitere Schularten: die Unterstufen der AHS und die Hauptschule für die leistungsschwachen Schüler.

Wieder anders sieht die Schulorganisation des Mittelstufenbereichs des Schulsystems nach den Schulversuchen mit der Neuen Mittelschule in Niederösterreich aus. Gesamtschulcharakter hat sie nur in der 1. und 2. Klasse (5. und 6. Schulstufe). Ab der 7. Schulstufe wird die neue Mittelschule neben den AHS-Unterstufen weitergeführt, in welche befähigteren Schüler übertreten. Die Mittelschule der 7. und 8. Schulstufe übernimmt die Leistungsdifferenzierung der Hauptschule und verleiht die derzeit geltenden entsprechenden Übertrittsberechtigungen (Zugehörigkeit zur I. Leistungsgruppe oder mit „Gut" in der II. Leistungsgruppe in die Oberstufe des Realgymnasiums und die berufsbildenden höheren Schulen, positiver Abschluss aller differenziert geführten Fächer in der II. Leistungsgruppe in die berufsbildenden Mittelschulen).

Unklar ist die Situation in den Modellplänen anderer Bundesländer. So wird beispielsweise im Modellplan für die Steiermark die Anwendung des Lehrplans des Realgymnasiums festgelegt. Schüler, welche ihm leistungsmäßig nicht entsprechen können, können auf Antrag der Eltern statt einer Klassenwiederholung eine Beurteilung nach dem Hauptschullehrerplan mit entsprechendem Vermerk im Zeugnis erhalten und in der Klasse verbleiben. Damit wird die Leistungsbeurteilung der Hauptschule mit dem Schulversuch Mittelschule verbunden. Eine entsprechende klare Aussage müsste im Modellplan allerdings noch ergänzt werden, wobei der Hauptschulbezug durch Festlegungen in der Mittelschulorganisation ersetzt werden müsste.

In letzter Zeit hat die Bundesministerin ihre Festlegung, dass die Neue Mittelschule eine gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen sein solle, allerdings zurückgenommen und spricht nur mehr von der neuen Mittelschule als Vorstufe dieser gemeinsamen Schule. Sie nimmt damit bereits vor Abschluss und Evaluation des Schulversuchs zur Kenntnis, dass die AHS-Unterstufe bestehen bleibt. Die Unterrichtsministerin müsste allerdings darauf bedacht sein, dass dann die Neue Mittelschule jedenfalls die Hauptschule als potentielle Gesamtschule zu ersetzen hat. Andernfalls droht ein Rückfall in der Mittelstufenstruktur zu einem Nebeneinander von drei Schularten, wie sie in der Ersten Republik von den Sozialdemokraten überwunden und durch die erkämpfte und seither verteidigte Hauptschule als einer potenziellen Allgemeinen Mittelschule ersetzt wurde.