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Gesamtschule – oder „Von der unerträglichen Wiederkehr des Gleichen!“

von Klaus Satzke
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Die sich bereits über Jahrzehnte erstreckende Diskussion um die Einführung einer Gesamtschule entbehrt nicht einer Reihe von Skurrilitäten und tragikomischen Elementen. Zuletzt war dies wieder einmal beim Forderungskatalog zum Bildungsvolksbegehren zu beobachten. Dort war viel Hirnschmalz aufgewendet worden, um das Wort Gesamtschule zu vermeiden, aber doch eine irgendwie dem Grundgedanken entsprechende Formel in den Text hineinzunehmen. Aber mit abstrakten Formeln gewinnt man keine Stimmen, wie ja auch die Ergebnisse des Volksbegehrens zeigen; zumindest nicht die Stimmen jener Menschen, die ohnehin Zweifel und Bedenken haben. Wieso erklärt eigentlich niemand der ohnehin nicht gar so riesengroßen Zahl von Österreichern, die am Thema wirklich interessiert sind, um welche Art der Umstellung es geht, wie die konkreten Schritte aussehen, wie lange die Umstellung dauert, welche konkreten Ziele man erreichen will?
Wieso stellt niemand die entlarvende Frage: Worüber reden wir eigentlich? Was sind die Probleme und wie sehen die konkreten Antworten aus?

Zunächst einmal zum Anliegen „Gesamtschule“:

Unter den gegebenen Bedingungen eines hoch-komplexen und hoch-differenzierten Schulsystems kann nur und muss Gesamtschule ein Qualitätsprojekt sein, das klar ersichtliche Vorteile hat.
Im Gegensatz zum derzeitigen System muss eine Systemumstellung allen Schülern glaubhaft den vollen Umfang des lehrplanmäßig vorgesehenen Bildungsangebotes offerieren, muss einen Unterricht „state of the art“ anbieten, der jedem Schüler das Erreichen seines persönlichen Optimums ermöglicht und muss Übertrittsbedingungen in die Sekundarstufe II bieten, die für alle Schüler gleich sind.

Ein solches Qualitätsprojekt Gesamtschule stößt allerdings derzeit auf einige massive Probleme, die weder verschwiegen noch weggeredet werden können:

1. Gesamtschule setzt voraus, dass vor der Systemumstellung die Unterschiede in den Lernergebnissen zwischen den einzelnen Schularten und Schulen nicht extrem groß sind, sonst sind vergleichbar gute Lernbedingungen an allen Standorten eine Illusion.

Nun hat aber die jahrzehntelange bildungspolitische Blockade zwischen den Regierungsparteien dazu geführt, dass es– bedingt durch die Konkurrenz zwischen den Schularten sowie durch soziale Veränderungen (z. B. unterschiedlicher Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund) - zu extremen Unterschieden innerhalb der Schularten und zwischen den Schularten gekommen ist.

2. Die in einer Gesamtschule unterrichtenden Lehrer müssen gleich gut ausgebildet sein, sonst entsteht ein Glaubwürdigkeitsproblem, das nicht weggeredet werden kann. Die derzeitige nach Schularten getrennte Lehrerausbildung hat aber– das steht außer Zweifel – arge Schwächen. Die sich aktuell abzeichnende weiterhin getrennte Ausbildung von Pflichtschullehrern und AHS - Lehrern beseitigt diese Zweifel nicht sondern verewigt die tatsächliche oder auch nur vermutete Niveaudifferenz zwischen universitär oder eben doch nur hochschulisch ausgebildeten Lehrern.

Wer unter diesen Gegebenheiten von einer denkbaren Umstellung auf ein Gesamtschulsystem spricht, der weiß nicht, wovon er redet!

• Unter den derzeitigen Gegebenheiten extremer Standortunterschiede wäre eine Gesamtschule, die sich als Qualitätsprojekt versteht, ein Etikettenschwindel.
• Die Alternative einer Sprengelschule, also einer wohnortnahen Schule (dem System im Primarschulbereich vergleichbar) ist konfrontiert mit den wohnort-spezifischen soziokulturellen Gegebenheiten, die einen nachhaltigen Einfluss auf das Schulgeschehen haben, d. h. es gibt dann eben Gesamtschulen im Speckgürtel einer Stadt oder in Stadtvierteln mit einer großteils sozial deprivierten Wohnbevölkerung.
• Bleibt die Alternative einer Quotenregelung, die an Schulen eine annähernde gleiche soziale Symmetrie intendiert: Glaubt wirklich irgendjemand, dass sich Politiker, die wiedergewählt werden wollen, auf so ein Manöver der Umverteilung von Schülergruppen einlassen, das notwendiger Weise als bürokratische Zwangsregelung verstanden wird?

Unter Berücksichtigung obiger Argumente muss man zum Schluss kommen, dass eine Systemumstellung nur auf der Grundlage eines mehrjährigen Entwicklungsprozesses möglich ist, der die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen hat:

- Da ein Teil der Schulen im Bereich der Sekundarstufe I unter extrem schwierigen Rahmenbedingungen arbeitet, müssen diese Standorte identifiziert und ein spezifisches Stützungs- und Hilfsprogramm ausgearbeitet werden.
- Vor allem im städtischen Bereich sind Kooperationsformen zwischen HS und AHS zu forcieren (nicht als Schulversuch, sondern als eine Regelschulvariante), um die zum Teil überlebensgefährdende Konkurrenz zwischen Schularten zu mildern.
- Die Sicherung einer freien Schulwahl durch Schüler / Eltern ist nicht nur demokratiepolitisch notwendig, sie ist auch ein Garant dafür, dass ein Qualitätsprojekt „Gesamtschule“ tatsächlich die Wahl zwischen annähernd vergleichbaren Schulen schafft.
- Im Übrigen muss ein Gesamtschulsystem durchaus nicht zu einer totalen Vereinheitlichung führen, sondern lässt auch ein Vielfalt zu, allerdings innerhalb gleicher Rahmenbedingungen für alle Schulen.
- Lehrerbildung ist ohnedies immer ein Langzeitprojekt. Wenn in der aktuellen Diskussion um Lehrerbildung nicht alle Chancen genützt werden, um endlich die unsinnige, auf zwei unterschiedliche Institutionen verteile Ausbildung zusammenzuführen, der meint es nicht ernst mit dem Bekenntnis zu einer Gesamtschule.
- Ein Qualitätsprojekt „Gesamtschule“ setzt ein hohes Maß an Unterstützung, Motivierung und auch kontinuierlicher Beobachtung von Schulentwicklung voraus. Unter den Bedingungen einer kompetenzmäßig zweigeteilten Schule (hier Schulen in der Landeshoheit, dort Bundesschulen) ist dies aber nicht möglich. In die eine oder andere Richtung muss es daher zu einer Verwaltungsreform kommen, die eine einheitliche Kompetenzlage schafft.

Die obigen Maßnahmen erscheinen – mit oder ohne Bekenntnis zu einer Gesamtschule - konsensfähig und würden nicht in die Falle der sattsam bekannten inhaltsleeren Polarisierungen tappen. Auch die Übertragung des Schulversuches „Neue Mittelschule“ hat trotz Begrenzung auf die Hauptschulen ein gewisses Entwicklungspotential in die angedeutete Richtung, wenn, ja wenn sie nicht zur isolierten Hauptschulreform gerät, mit der man schon in den 80er-Jahren gescheitert ist. Derzeit ist nicht zu erkennen, dass man aus den Fehlern gelernt hat!

Denn wenn es immer wieder beim abstrakten Geplapper über Gesamtschule bleibt, dann wächst die schlimme Vermutung: Jene, die darüber reden, wissen es gar nicht besser, sie wollen es auch gar nicht wissen, weil es viel einfacher ist, die komplexe schulpädagogische Diskussion in ein einfaches Pro und Kontra aufzulösen.