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Ich sehe Licht: Die Schulentwicklung kommt langsam, aber in sicheren Schritten voran

von Gottfried Petri
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Wie internationale Vergleichsuntersuchungen nachgewiesen haben, funktionieren die österreichischen Schulen nicht optimal. Bisherige Verbesserungsbemühungen brachten noch nicht die erwarteten Erfolge:
- Seit mehr als 100 Jahren verkünden pädagogische Visionäre immer wieder höchst attraktive Prinzipien des Lernens und Lehrens, um das „Eintrichtern von Wissen“ durch eine „schülerorientierte“ Art des Unterrichtens zu ersetzen. Den Lernenden soll weitgehend selbständiges Erkennen von Sachverhalten und Zusammenhängen, Einüben von wohlverstandenen, nach Möglichkeit eigenständig erarbeiteten Verfahrensweisen sowie effektives Verwenden von Lern- und Denkstrategien ermöglicht werden.
- In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bemühte man sich in Österreich wie in anderen Industrieländern um die Einführung eines Gesamtschulsystems zur Förderung von sozial benachteiligten Kindern, um sie dort besser zu bilden als es in zweiten Hauptschulklassenzügen oder unteren Leistungsgruppen möglich erscheint.
Evaluationsuntersuchungen zeigten jedoch klar, dass beide Entwicklungsrichtungen nicht die von ihnen erwarteten großen Vorteile brachten: Bildungsergebnisse hängen kaum davon ab, ob in Klassen eines gegliederten Schulsystems oder in leistungsheterogenen Gesamtschulklassen unterrichtet wird. Und auch der Einsatz von reformpädagogischen Methoden wie selbstgesteuertes Lernen, Gruppen-und Partnerarbeit, Freiarbeit, Stationenlernen , Projektarbeit usw. führt nicht ohne weiteres – abgesehen von mehr Spaß in der Schule – zu besseren Ergebnissen. (Grogger et al. 2002)
Offensichtlich kommt es weder auf die Art der Schulorganisation, noch allein auf das Bemühen der Lehrenden um die Realisierung von attraktiven pädagogischen Prinzipien an. Entscheidend wichtig ist vielmehr eine wirksame Gestaltung des Unterrichts, die bedeutend stärker von anderen, bisher nicht hinreichend klar gesehenen Faktoren abhängt als von der Schulorganisation oder der intensiven Verkündigung von pädagogischen Visionen.
Die entscheidende Frage lautet: Wovon hängt die Qualität von Unterricht wirklich ab?
Als Antwort kristallisierte sich in deutschsprachigen Ländern folgender Gedanke heraus: Zwar verfügen die einzelnen Lehrenden im Allgemeinen nicht über das vollständige pädagogische Wissen und Können zur Realisierung eines Unterrichts von optimaler Qualität, doch erarbeiten viele Unterrichtspraktiker ausgezeichnete Ideen, die systematisch erhoben, gesammelt, allgemein zugänglich gemacht und von vernetzten Gruppen engagierter LehrerInnen weiterentwickelt werden können. Da die Lehrenden aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit die Unterrichtsexperten sind, sind sie voll für die Unterrichtsentwicklung zuständig.
Als Ergebnis solcher Überlegungen entstanden in Österreich der Projektverbund IMST und in Deutschland der Verbund SINUS. Innerhalb dieser beiden Verbünde, arbeiten heute Hunderte, wenn nicht Tausende Lehrkräfte verschiedener Schultypen, Schulstufen und Unterrichtsfächer an der Entwicklung, Erprobung und Veröffentlichung von Unterrichtseinheiten zusammen.
Publizierte Projektberichte von Lehrenden sollen die KollegInnen bei der Planung und Durchführung ihres Unterrichts unterstützen, um so die wertvollen Ideen und Erfahrungen von einzelnen Lehrpersonen für die allgemeine Schulentwicklung nutzbar zu machen. Wenn alle Unterrichtenden Zugang zu vielen besonders gut ausgearbeiteten Unterrichtseinheiten erhalten – so die Erwartung – werden sie auf der Grundlage der darin enthaltenen Anregungen ihre Befähigung zu guter Unterrichtsgestaltung zügig weiterentwickeln.
Ein von IMST nachdrücklich verkündeter Grundsatz besagt: Unterrichtseinheiten können nicht einfach von Schulklasse zu Schulklasse transferiert werden. „1:1-Transfer“ als bloßes „Klonen“ ist absolut unmöglich, weil die Verschiedenheit der Klassen, der Lehrenden und der Unterrichtssituationen eine den jeweiligen Gegebenheiten angepasste einmalige Art guter Unterrichtsgestaltung verlangt. Daraus wird vorschnell eine radikale Schlussfolgerung gezogen: dass nämlich die zentrale Entwicklung von übertragbaren Unterichtseinheiten absolut undenkbar sei.
Nun haben Untersuchungen der letzten Jahre ergeben, dass die im IMST-Verbund Unterrichtseinheiten erstellenden LehrerInnen mit großem Engagement hervorragende Arbeit – oft weit über die zeitliche Dienstverpflichtung hinaus - leisten, jedoch im Allgemeinen nicht in der Lage sind, den Standards der modernen empirisch-wissenschaftlichen Entwicklungsarbeit entsprechend vorzugehen. Und zwar deshalb nicht, weil sie weder über die notwendige Arbeitszeit noch über die erforderlichen wissenschaftlichen Fachkenntnisse, Werkzeuge und Rahmenvoraussetzungen verfügen. Diesbezügliche Einschätzungen von Petri (z.B. 2004, 28 und 2006, 183ff) werden von universitärer Seite (Maaß et al., 2007 und Schneider et al., 2010) bestätigt. Es zeigte sich auch, dass LehrerInnen nur sehr selten aus den publizierten Projektberichten praktischen Nutzen zu ziehen versuchen.
Wie das folgende kurze Beispiel einer Auflistung von mathematischen IMST-Projektberichten des Schuljahres 2008/09 aus den AHS deutlich macht, dürfte es für Lehrende nicht leicht sein, für ihre jeweiligen Unterrichtssituation aus einem umfangreichen Angebot von Berichten solcher Art passende Anregungen und Hilfen herauszuarbeiten:
- Mathematisches Museum
- Lesen in der Freiarbeit - Ein Modell nach dem Daltonplan
- Entdeckendes Lernen mit dynamischer Geometrie-Software
- Podcasts als Unterstützung zum selbstständigen Erarbeiten mathematischer Inhalte
- Didaktische Potenziale und praktische Hindernisse beim Einsatz digitaler
Medien im Mathematikunterricht mit Hilfe der Moodle-Lernumgebung
- Sprachkompetenz & Mathematik
- Modellieren im Mathematikunterricht
- Wir ziehen unsere Kreise
- Forschendes und entdeckendes Lernen mit praxisnahen Beispielen und Individualisierung
Zwar scheint der Beitrag der bisherigen IMST-Aktivitäten zur Verbesserung der Unterrichtseffektivität nicht befriedigend zu sein, doch wurde ein organisatorisches System zur wirkungsvollen Einbringung von Innovationen in die Unterrichtspraxis entwickelt, wie es für die weitere Schulentwicklungstätigkeit unentbehrlich sein wird: Sobald einmal effektive Unterrichtsmaterialien, Informationen und Übungsgelegenheiten für weiterentwickeltes Unterrichten zur Verfügung stehen werden, müssen diese von vermittelnden Personen oder Institutionen auf Schul-, Regional-, Landes- und Bundesebene in effektiver Weise an die jeweils zuständigen Adressaten weitergegeben werden. Entsprechende Vermittlungsstellen baut IMST zur Verfolgung seiner gegenwärtiger Ziele systematisch auf.
Überdies enthalten die IMST-Projektberichte eine Fülle von Ideen und Entwicklungsansätzen, deren Einbau in die künftige wissenschaftliche Entwicklungsarbeit von großem Wert sein wird.