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Schulpolitische Irrtümer des Wissenschaftsministers

von Helmut Seel
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Wie bereits im vergangenen Juni im Gastkommentar in der „Presse“ reagierte der Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle auch auf die Spekulation seine Landsmannes, des Lamdeshauptmanns von Tirol Günther Plattner mit der Gesamtschule für die Sekundarstufe I (der Schule für die Zehn- bis Vierzehnjährigen) als getreuer Assistent seines Parteiobmanns, des Vizekanzlers Spindelegger, mit einer Verteidigung der Langform des Gymnasiums.

Er bediente sich dabei eines Arguments, das vor rd. hundert Jahren sein Altphilologenkollege Richard Meister, damals noch Universitätsprofessor für Alte Sprachen in Graz, verwendete: Der Bildungswert der alten Sprachen, insbesondere des Lateins, erschließe sich nur in einem acht- oder zumindest sechsjährigen Lehrgang und daher sei die Langform des Gymnasiums unverzichtbar („Die Bildungswerte der Antike und der Einheitschulgesdanke“ 1920).

Abgesehen davon, dass das österreichische Gymnasium 1849 nicht wie das deutsche als neunklassige höhere Schule aus dem Geist des Neumunanismus eines Wilhelm von Humboldt und mit Monopol für den Universitätszugang über das Abitur gegründet wurde, sondern als achtklassige Mittelschule, die in eine vierklassige allgemeinbildend ausgerichtete Unterstufe und in eine vierklassige studienvorbereitende Oberstufe geteilt war, war das österreichische Gymnasium hingegen der Bildungstheorie Johann Friedrich Herbarts verpflichtet, nicht neuhumanistisch konzipiert und nur als ein Weg neben anderen zur Hochschulberechtigung über die Matura vorgesehen. Und schon 1849 wurde darüber gestritten (Franz Exner vs. Ernst v. Feuchtersleben), ob die Unterstufe nicht als lateinsloses Progymnasium eingerichtet werden sollte. Das sollten österreichische Altphilologen eigentlich wissen.

Aber während Richard Meister (der später als Professor für Pädagogik an der Universität tätig warund diese Wissenschaft Jahrzehnte lang in Österreich dominierte) 1920 noch zu einer Verteidigung der gymnasialen Langform antreten konnte und 1927 im Mittelschulgesetz neben dem Gymnasium auch das Realgymnasium, die Realschule und die Frauenoberschule als maturaführende Schulen zur Kenntnis nehmen musste, hat Wissenschaftsminister Töchterle 2012 nichts mehr zu veteidigen. Seit 1945 führen alle Mittelschulen (ab 1962 allgemeinbildende höhere Schulen) eine Lebende Fremdsprache ab der 1. Klasse. Seit 1962 ist die Bezeichnung Gymnasium für alle höheren Schulen mit fremdsprachlichem Schwerpunkt in Verwendung (2. Fremdsprache ab der 3. Klasse, dritte Fremdsprache ab der 5. Klasse), während das Realgymnasium nur eine zweite Fremdsprache ab der 5. Klasse führt. In der großen Mehrzahl der Gymnasien in Österreich wird derzeit in der 3. Klasse eine zweite Lebende Fremdsprache unterrichtet, und gar nicht selten kann man das Gymnasium absolvieren, ohne jemals Latein gelernt zu haben, denn auch als dritte Fremdsprache kann in der Oberstufe des Gymnasiums eine weitere Lebende Fremdsprache gewählt werden.

Mit dem Bildungswert eines langen Lateinlehrgangs lässt sich daher die Langform der AHS nicht verteidigen. Wissenschaftsminister Töchterle jagt da einem Phantom nach. Das Beharren der ÖVP auf der Langform der AHS hat andere Gründe. Vor allem geht es um die Verteidigung des Bildungsprivilegs der sozio-ökonomisch höheren Gesellschaftsschichten. Diese Eltern entscheiden sich oft bereits vor dem Volksschuleintritt ihrer Kinder für deren Besuch der statuserhaltenden und standesadäquaten höheren Schule als Wahlschule nach der Volksschule. Und die Grundschullehrer sehen sich nicht selten einem diesbezüglichen Druck ausgesetzt. Es ist eben bequemer, sich auch mit mangelhaften Schulleistungen noch für die Oberstufe zu qualifizieren, als sich in der Hauptschule als Gesamtschule dem Leistungswettbewerb über das System der Leistungsniveaus („Leistungsgruppen“) zu stellen, um eine Übertrittsberechtigung in die Oberstufe der höheren Schulen zu erringen. Und auch die Neue Mittelschule als Gesamtschule wird den Qualifikationswettbewerb durch transparente und kontrollierbare Leistungsdifferenzierung zu bewältigen haben.