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10 Thesen zur Bildungspolitik

von Klaus Satzke
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These 1: Eine Veränderung der Rahmenbedingungen für Bildungspolitik ist notwendig
Bildungspolitik ist so erfolglos, weil sie nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Rahmenbedingungen, unter denen Bildungspolitik derzeit arbeitet, zu verändern.
Diese Rahmenbedingungen betreffen insbesondere auch die Verfassungsbestimmungen über die Zuständigkeiten im Schulbereich und die gegebene Behördenorganisation.

These 2: Eine Verfassungsreform ist notwendig
Die in der Verfassung verankerte Aufteilung von Zuständigkeiten (Bundessache ist …,
Landessache ist …) führt nicht zu einem sinnvollen Zusammenwirken unterschiedlicher Verwaltungsebenen, sondern schließt eine Synchronisation von Maßnahmen geradezu aus. Lediglich im Wege von 15a-Verträgen können in begrenzten Fragenbereichen Maßnahmen zwischen Bund und Ländern abgestimmt werden. In schulpädagogischen Fragen gab es aber noch nie derartige Vereinbarungen. Wenn es nach 10 Jahren PISA-Diskussionen bis heute kein stringentes, durchgängiges Maßnahmenkonzept gibt, dann liegt hier eine der Ursachen dafür. Die Komplexität einer Schulorganisation erfordert zweifellos die Berücksichtigung lokaler, regionaler und zentraler Interessen, braucht daher unterschiedliche Ebenen für Entscheidungen und Einflussnahmen, aber ein derartiges System braucht auch geschlossene (d. h. alle Ebenen umfassende) Informationskreisläufe , abgestimmte Handlungsabläufe und eine demokratisch legitimierte interne und externe Kontrolle.

These 3: Eine Reform der Organisation von Schulverwaltung ist notwendig
Dem bestehenden schulgesetzlichen Regelungsapparat liegt durchgängig ein Verständnis von Schule als einer Verwaltungsorganisation zugrunde. Das steht im Widerspruch zu den Erwartungen an Schule, auf aktuelle Erfordernisse rasch und zielgerichtet zu reagieren bzw. eine Schulentwicklung zu betreiben, die sich als Prozess versteht, der behutsam, konsequent
und reversibel betrieben werden muss. In diesem Sinne braucht Schule ein Weniger an Verwaltung und ein deutliches Mehr an Entwicklungsräumen.

These 4: Schulentwicklung an Stelle einer verwalteten Schule ist notwendig
Die Alternative zur „verwalteten Schule“ ist das Konzept der Schulentwicklung, das sich ausdrücklich und nachdrücklich an den Interessen und Bedürfnissen der „Abnehmer“ schulischer Dienstleistungen orientiert. Der notwendige Kompromiss zwischen individuellen Bedürfnissen und berechtigten gesellschaftlichen Erwartungen ist nicht ein für alle Mal festzulegen, sondern bedarf einer systematischen, regelmäßigen Reflexion und Neubestimmung. Das bestehende System einer verwalteten Schule kennt zwar auch Reflexionsprozesse, im Ergebnis setzen sich aber fast immer die internen oder externen Interessenträger aus Politik und Verwaltung durch.

These 5: Eine Ausweitung der Entscheidungsfreiräume auf der Ebene der einzelnen Schule ist notwendig
Was dem Schulsystem fehlt, das ist eine Entwicklungsdynamik, die sich aus den Interessen und dem Engagement der unmittelbar an der Schule Mitwirkenden (Eltern – Schüler – Lehrer) speist und die von der Überzeugung getragen ist, dass die Schule viele Dinge selbst in die Hand nehmen und lösen kann.
Auf der Ebene der einzelnen Schule, also dort, wo die Interessen der Schulpartner am klarsten zu Tage treten, bestehen derzeit nur minimale Freiräume für eigenständiges und eigenverantwortliches Handeln. Das liegt vor allem daran, dass die Wichtigkeit von Funktionsträgern oft beschworen wird, aber keine klaren Aufgaben und Verantwortlichkeiten
• in den Fragen erweiterter Freiräume für Schulautonomie,
• einer klaren Definition von Verantwortlichkeiten bei den Schulleitungen,
• dem Ausbau von Entscheidungsrechten der Schulpartner unmittelbar am Schulort

definiert werden und den Schulpartnern bestenfalls eine Veto-Funktion als eine Gestaltungsfunktion zugeordnet wird.

These 6: Eine regionale Koordinationsebene ist notwendig
Eine Schulentwicklung, die sich mit den konkreten Anliegen der Schulen befasst und die Probleme in ihrem regionalen Kontext versteht, braucht nicht nur Freiräume für Initiativen, die von den Schulen ausgehen und von den Schulpartnern getragen werden, sondern eine regionale Koordinationsebene (Bildungsregionen), die eine standort-übergreifende Problemanalyse und eine Abstimmung der Maßnahmen sicherstellt.
Überall dort, wo Schule mit strukturellen Problemen ringt, spielt die regionale Komponente eine entscheidende Rolle. Der Zusammenhang zwischen Schülerstromentwicklung, Angebotsdichte von Schulen, Alternativangeboten, Bildungswegen der Schüler, Prestige einzelner Schulen, fehlenden Schulabschlüssen, Berufschancen von Absolventen etc. etc. sind nur im regionalen Kontext verständlich und auftretende Probleme nur in diesem Kontext lösbar.

These 7: Ein Ineinandergreifen von Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen ist notwendig
Offenkundig ist Bildungspolitik nicht in der Lage, ihre eigene Rolle bzw. Rolle der von ihr genutzten behördlichen Institutionen kritisch zu reflektieren und das Konzept einer schrittweisen Entlastung von Schule durch Rückbau von Politik und Verwaltung sowie Eröffnung von Gestaltungsräumen für die einzelnen Schulen und Bildungsregionen zu schaffen. Es geht auch nicht um eine Polarisierung hier Bundeskompetenz, dort Landeskompetenz, sondern um die Möglichkeit, zentrale Anliegen im Bildungswesen als Ineinandergreifen von Maßnahmen auf unterschiedlicher Ebene zu ermöglichen.

These 8: Eine Politik der konsequenten kleinen Schritte ist notwendig
Das Instrumentarium von Schulversuchen, auf das von der Bildungspolitik immer wieder gerne zurückgegriffen wird, wenn Verhandlungen in eine Pattsituation münden, ist unter den heutigen Gegebenheiten kein geeignetes Instrument der Schulentwicklung. Es kann das bildungspolitische Problem nicht lösen, sondern deren Lösungen nur aufschieben und führt regelmäßig zu einer Laborsituation, die für die unterschiedlichen Gegebenheiten an den Schulstandorten nicht passt und deren Weiterentwicklung im Wege steht. Die Alternative ist daher eine systematische, kleinschrittige Weiterentwicklung von Schule, bei der der Bund zwar die großen Linien vorgeben sollte, die eigentliche Gestaltung aber bei den Schulen und den Bildungsregionen liegt.

These 9: Antworten auf massive Defizitbereiche fehlen:

Dropouts und Bildungsversagen
Die herkömmliche Bildungspolitik reflektiert nicht die Probleme einer im schulischen Bereich existierenden Zweidrittelgesellschaft, was die Nutzung der schulischen Möglichkeiten betrifft. Die jahrzehntelange Blockade im schulischen Bereich hat zu Selbstregelungsprozessen geführt, bei denen ein wachsender Anteil der Bevölkerung tatsächlich Zugang zu höherer und vielleicht auch besserer Bildung erfahren hat, gleichzeitig sich aber der Anteil von Bildungsversagen und Drop Outs auf einem hohen Prozentanteil stabilisierte. Die Probleme, die sich daraus ergeben, drohen den schulischen Gesamtertrag massiv in Frage zu stellen und werden zu einer sozialen Zeitbombe für die Zukunft. Es handelt sich hier um das zentrale Problem der Schulentwicklung, das einer systematischen Bearbeitung bedarf.

Die Unterschiede innerhalb und zwischen Schularten sind zu groß
Bildungspolitik findet auch keine Antwort auf die Probleme, die sich aus den enormen Standortunterschieden zwischen Schulen mit unterschiedlichem sozio-ökonomischen Umfeld ergeben (z. B. an Standorten mit hohem Migrationsanteil). Über viele Jahre wurde Problemleugnung und Problemkosmetik betrieben. Das aktuelle Krisenmanagement erreicht nun endlich auch unmittelbar die Schulen, aber es fehlt an Nachhaltigkeit und an einer konsequenten Überprüfung von Erfolg bzw. Misserfolg der Maßnahmen. Ohne eine Reduzierung der Standortunterschiede bleibt eine gelungene Mittelstufenreform Illusion, weil sie an der Frage der Abwanderung von Problemstandorten scheitert.

Thesen 10: Eine Mitwirkung der wissenschaftlichen Community ist erforderlich
Das System Schule, so wie es ist und wie es mehr schlecht als recht funktioniert, agiert unter den Augen einer wissenschaftlichen Community, die irgendwie mit dabei ist, aber selten eine echte Gestaltungschance erhält. Die Wissenschaft ist ja traditionell in Österreich in der merkwürdigen Lage, immer wieder für Expertisen herangezogen zu werden, die zumeist aber wenig bewirken.
Es gibt keine wirkliche Tradition, dass sich Experten einzeln oder als Gruppen eigenständig und unabhängig zu Wort melden. Und es gibt auch keine öffentliche Plattform dafür, wie das zuletzt in den 70er-Jahren im Rahmen der Schulreformkommissionen immerhin möglich war. Die Frage ist, ob das die Community so will oder ob sie sich Alternativen vorstellen kann.