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Gedanken zum allgemeinen Bildungsniveau in der Gesellschaft

von Helmut Seel
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Der Präsident der Bundeswirtschaftskammer Dr. Christoph Leitl hat kürzlich den Vorschlag gemacht, eine einjährige Lehrausbildung im Anschluss an die Matura einzuführen, um den Bedarf der Wirtschaft nach qualifizierten und fortbildungsfähigen Arbeitskräften decken zu können. Dies trägt durchaus der Entwicklung in der Gesellschaft Rechnung, dass immer mehr Heranwachsende den Matura-Abschluss anstreben und nicht alle von ihnen ein Hochschulstudium aufnehmen wollen und können. Für viele könnte die Perspektive, sich über eine Facharbeiterausbildung mit dem möglichen Zugang zur Meisterprüfung zu qualifizieren, interessant erscheinen.

Der Abschluss der allgemeinen Bildung - verstanden als Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in persönlichen und gesellschaftlichen Problemlagen und Herausforderungen, wie sie vor allem die „Realienfächer“ und die musisch-künstlerischen Disziplinen einschließlich der Literatur vermitteln - auf Maturaniveau löst zunehmend die bisher an den Abschluss der Sekundarstufe I (Hauptschulabschluss) gebundene Grundbildung ab. Diese Entwicklung ist in Österreich deshalb zu beachten, weil dem österreichischen Schulsystem – anders als dem deutschen – die Stufe der mittleren Reife nach einer zehnjährigen Dauer der Schulpflicht fehlt. Der Pflichtschulabschluss mit dem 16. Lebensjahr ist im Übrigen bereits in den Schulsystemen der meisten europäischen Staaten eingeführt, weshalb beispielsweise die PISA-Tests für diese Alterstufe vorgesehen sind.

Es ist interessant, dass die ÖVP-Expertengruppe „Unser Österreich 2025“ die Forderung nach Einführung der mittleren Reife wieder aufgreift, nachdem sie in letzter Zeit bereits in Vergessenheit geraten war. Allerdings wird die ebenfalls geforderte Verlängerung der Sekundarstufe I um ein Jahr dazu nicht reichen, wenn es nicht gleichzeitig auch gelingt, das bereits bestehende neunte Pflichtschuljahr in das Schulsystem besser zu integrieren. Seine Einführung im Jahr 1962 ist misslungen und hat zum Kuriosum des Polytechnischen Lehrgangs geführt. In einer neuen Schulorganisation müsste die Übertrittsebene in die Schulformen der Oberstufe (Sekundarstufe II) von der achten (Hauptschulabschluss) zur zehnten Schulstufe verlegt werden.

Besonders betroffen wäre dadurch der Bereich der berufsbildenden höheren Schulen, welche im bestehenden österreichischen Schulsystem eine international anerkannte Schulform darstellt. In der Diskussion um die Akademikerquote in Österreich wird beispielsweise oft nicht in Rechnung gestellt, dass der BHS-Abschluss von der EU als Berufsausbildung auf Diplomebene anerkannt wird (Richtlinie 95/43 EG). Der Effekt der Überleitung von AHS-Maturanten in den Berufsausbildungssektor kann daher auch über die Kollegs an den berufsbil0denden höheren Schulen gelingen. Allerdings wären auch Veränderungen in der BHS denkbar. Bei Bestehenbleiben des Eintritts nach der achten Schulstufe könnte man dort die mittlere Reife mit dem Abschluss der dritten Klasse koppeln, wobei Veränderungen in der Platzierung der allgemeinbildenden Unterrichtsgegenstände denkbar wären.

Der Vorschlag des Präsidenten der Bundeswirtschaftskammer hat Widersprüche hervorgerufen. Sie kommen in erster Linie aus dem Bereich des Gewerbes, wobei vor allem zwei Argumente beachtenswert erscheinen. Erstens: Der Zeitraum eines Jahres erscheint für die praktischen Lernprozesse zu kurz. Dem ist entgegen zu halten, dass vielfach heute die intensive Aneignung handwerklicher Fertigkeiten weniger gefordert sind als der Erwerb der Einsichtsfähigkeit in technisch-maschinell vollzogene Prozesse und Befähigung zu Fortbildung im Zusammenhang mit der technologischen Entwicklung. Allerdings fehlt bei einer einjährigen Berufsausbildung für Maturanten der jahrelange Prozess des Hineinwachsens in, bzw. des Angepasstwerdens an autoritär strukturierte und hierarchisierte betriebliche Führungssysteme. Daher wird eine organisierte Interessenvertretung bedeutsam, was den Widerstand der Gewerkschaft gegen die einjährige Lehrberufsausbildung für Maturanten verständlich macht.

Zweitens: Es wird die Sorge formuliert, dass sich Maturanten als Lehrlinge nicht mit einer so geringfügigen Entlohnung wie der bestehenden Lehrlingsentschädigung zufrieden geben würden. Wird hier eine Sorge erkennbar, dass den Betrieben die Lehrlinge als billige Arbeitskräfte verloren gehen könnten ? Die geringere Jugendarbeitslosigkeit in den deutschsprachigen Staaten hat eben seinen ökonomischen Preis.

An solchen Widerständen von Seiten der Wirtschaft sind bereits manche einschlägige Projekte gescheitert. Ein solches wurde beispielsweise 1990 vom Institut für Pädagogik der Universität Graz als Zusammenarbeit der Werksberufsschule der Böhlerwerke in Kapfenberg mit dem dortigen Gymnasium entwickelt. Eingerichtet wurde hingegen beispielsweise das Gewerbe-BORG in Bad Radkersburg. Allerdings gibt es auch schon länger gelungene Versuche, die AHS-Ausbildung mit Matura-Abschluss mit der Lehrlingsausbildung (Lehrabschlussprüfung) in einer neunklassigen höheren Schule (fünfjährige Oberstufe) zu verbinden. In erster Linie ist das Werkschulheim „Felbertal“ in Ebenau bei Salzburg zu nennen. Der Name erinnert an den Gründungsort nach dem Zweiten Weltkrieg. Am Werkschulheim als Sonderform der AHS wird nach der achten Klasse die Lehrabschlussprüfung wahlweise in den Berufen Schlosser, Tischler oder Elektrotechniker abgelegt, nach der neunten Klasse die Reifeprüfung.

Man sollte bedenken: Das Gelingen der Demokratie hängt nicht zuletzt vom allgemeinen Bildungsstand der Bürger ab. Alle Initiativen zur Anhebung der Grundbildung verdienen daher Unterstützung bei der Überwindung der Traditionen.