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Rumor in den Gräbern der Bildungspolitiker

von Helmut Seel
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Generationen sozialdemokratischer Bildungspolitiker drehen sich im Grabe um, wenn sie den Eiertanz beobachten, den derzeit die Spitzenpolitiker der SPÖ um die Allgemeine Mittelschule, die gemeinsame Schule für alle Heranwachsenden, für die Gesamtheit der Zehn- bis Vierzehnjährigen aufführen. Der Schulsprecher der SPÖ Mayer hält sie für eine unabdingbare Forderung für eine Regierungskoalition, die Unterrichtsministerin Dr. Schmied und der Bundeskanzler Faymann hingegen signalisieren einem möglichen Koalitionspartner in einer voreiligen Kapitulation, dass diese Forderung nicht so ernst zu nehmen sei.

Dabei ist die Entscheidung längst gefallen. Im Bemühen, wenigstens einen schulpolitischen Erfolg neben dem Desaster der Oberstufenreform und der Katastrophe der Zentralmatura aufweisen zu können, hat die Unterrichtsministerin die Gesamtschule bereits geopfert. Um die Zustimmung der ÖVP zur fragwürdigen Einführung der Neuen Mittelschule an Stelle der Hauptschule zu erreichen, hat sie dem Vizekanzler Spindelegger den weiteren Bestand der AHS-Unterstufe zugesichert. Diese Entscheidung stand im Widerspruch zu den Bestimmungen im Bildungsprogramm der SPÖ und wurde in den SPÖ-Gremien nicht diskutiert. Der Bundeskanzler war – das ist doch anzunehmen – informiert und hat nun dieselben Argumentationsprobleme. Und Spindelegger konnte seiner Partei endlich einmal Stärke demonstrieren. Unterstützt wird er dabei mit den Fantasien der Wissenschaftsministers Töchterle über ein Gymnasium, das es in dieser Form in Österreich nie gab.

Den aktuellen Kritiken am österreichischen Schulsystem wie etwa den Vorwurf, dass es eine im internationalen Vergleich unzulängliche soziale Gerechtigkeit in den Bildungschancen aufweise, dass die Bildungschancen quasi vererbt würden, oder die Feststellung (über die internationale Vergleichsuntersuchung PISA nachgewiesen), dass in Österreich bei zahlreichen Schülerinnen und Schülern nur unzulängliche Leseleistungen erreicht würden, kann man aber nur durch die Einführung einer gemeinsamen Mittelstufenschule entgegentreten. So lange die Grundschullehrer über die zukünftige Bildungslaufbahn der Kinder zu entscheiden haben, indem sie ihnen nach der vierten Schulstufe eine AHS-Reife bescheinigen, werden die Kinder aus bildungsnäheren Elternhäusern immer im Vorteil sein. Die Eltern bekunden frühzeitig das Interesse, dass ihr Kind den Weg zur Matura einschlägt. Und manche Volksschullehrer meinen bereits in der zweiten Schulstufe die zukünftigen AHS-Schüler zu erkennen, deren Förderung ihnen daher ein besonderes Anliegen ist, was zur Benachteiligung der weniger tüchtig erscheinenden Kinder führen muss.

Erst wenn die Volksschule von der Entscheidung über die folgende Schullaufbahn befreit ist, ergibt sich die Chance für alle, nach Bedarf gefördert zu werden. Dies würde zu einer besseren Grundbildung in den Fertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens führen. Der individuelle Entwicklungsprozess der einzelnen Schüler müsste stärker beachtet und beispielsweise das Einheitstempo des Lernfortschritts im Elementarunterricht, der sich thematisch am Jahresablauf orientiert, aufgegeben werden. Dies erfordert auch ein Umdenken in der Leistungsbeurteilung, in welcher der individuelle Lernfortschritt dokumentiert werden müsste und nicht die Platzierung im Leistungsvergleich mit anderen.

Die Zeit der schrittweisen schulischen Differenzierung nach dem Leistungsaspekt ist erst die Mittelstufe, die Schule der Zehn- bis Vierzehn-, Fünfzehn- oder Sechszehnjährigen. Sie sollte bis zum Ende der Schulpflicht reichen. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich nun an qualitativ und quantitativ unterschiedlichen Anforderungen bewähren und sind von den Lehrern dabei zu beobachten und zu unterstützen. Zwar werden auch hier die besser häuslich geförderten Kinder im Vorteil sein, aber der Leistungswettbewerb ist offen und starke Vorbilder wirken anspornend.

Die neue Hauptschule, die 1983 auf Grund der Schulversuche mit der Gesamtschule (4, SchOG-Novelle 1971) geschaffen wurde, war eine potenzielle Gesamtschule mit ihren drei Leistungs- und Beurteilungsniveaus, und eine reale Gesamtschule im ländlichen Bereichen, in denen keine AHS-Unterstufe besteht. Zwar ist manche Kritik an der Hauptschule berechtigt, etwa die frühzeitige und starre Leistungsgruppenbildung. Dies war aber nicht pädagogisches Programm, sondern wurde von der verrechtlichten Schulverwaltung erzwungen, auch wenn sie der individuellen Entwicklung der Schüler nicht förderlich war.

Aber es war klar: Die obere Leistungsebene („1. Leistungsgruppe“) entsprach auf Grund der wortidenten Lehrpläne leistungsmäßig der AHS-Unterstufe und vermittelte dementsprechend die gleichen Übertrittsberechtigungen in die Schulen der Sekundarstufe II. Die Situation in der Neuen Mittelschule ist weniger transparent. In der individuellen Beurteilung die Schülerleistungen entweder einer im Lehrplan schwer zu beschreibenden „grundlegenden“ oder einer „gehobenen“ Allgemeinbildung zuzuordnen, wird den Lehrern Schwierigkeiten bereiten und den Eltern Unsicherheiten. Die Neue Mittelschule läuft Gefahr, zum „Zweiten Klassenzug“ des Schulsystems zu verkommen. Dies zeigt der anhaltende starke Zulauf zur AHS-Unterstufe, welche als einzige Schulart bei generell rückläufigen Schülerzahlen Zuwächse aufweist.

Im Leitantrag zum Bundesparttag der SPÖ wird zwar die „gemeinsame, ganztägige Schule der 10- bis 14-Jährigen“ zum Ziel erklärt, in ein künftiges Regierungsprogramm soll aber aufgenommen werden: „Harmonisierung der AHS-Unterstufe und Weiterentwicklung der Neuen Mittelschule in der Form, dass bis spätestens 2018 die Gemeinsame Schule 10- bis 14-Jährigen verwirklicht wird.“ Die einfachste Form der Harmonisierung wäre wohl die Vereinigung der beiden Schulformen in einer Gesamtschule mit zwei Klassenzügen, eine allerdings heute aus wissenschaftlich gesicherten Gründen längst überholte Organisationsform der Gesamtschule.

Im Gespräch des „Kuriers“ mit dem Bundeskanzler Faymann und dem Präsidenten der Industriellenvereinigung Kapsch vom 7.10 2012 zeichnet sich diese Lösung zum Glück nicht ab. Auf die Frage „Sollen alle bis 14 in eine gemeinsame Schule gehen?“, antwortet Kapsch: „Wenn man nicht einfach die AHS-Unterstufe mit der Neuen Mittelschule mixt, sondern ein neues Konzept mit individueller Leistungsdifferenzierung macht“ und lässt eine Präferenz für fachspezifische Leistungsgruppen erkennen. Sollte etwa eine revidierte Form der leistungsdifferenzierten Hauptschule das Kompromisskonzept der ÖVP für eine allgemeine Mittelschule sein? Als eine vom Koalitionspartner provozierte Niederlage der Unterrichtsministerin würde dann der Umweg über die Neue Mittelschule doch noch bildungspolitischen Sinn erhalten.