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Anmerkungen zur Evaluation der Implementation der Neuen Mittelschule

von Helmut Seel
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E. Svecnik hat in seinem Beitrag „Die bundesweite Evalution der Neuen Mittelschule“ Im einschlägigen Themenheft 8 – 10/2012 der Zeitschrift „Erziehung und Unterricht“ ein sophistiziertes Evaluationskonzept des BIFIE vorgelegt. Es wird aber bei allem Problembewusstsein („Die Entwicklung der Erfolgskriterien für die Evaluation gestaltete sich aufwändig. Da die Zielsetzung in der Neuen Mittelschule nicht explizit in legistischen Dokumenten und Publikationen vorgelegt worden war – es handelte sich vielmehr um einen Maßnahmenkatalog, der den Bundesändern, Regionen und Schulen viele Möglichkeiten einräumten“, S. 819) einer tatsächlichen summativen Evaluation (insbesondere der Überprüfung der Schülerkompetenzen in der Neuen Mittelschule im Vergleich zur abzuschaffenden Hauptschule) nicht gerecht. Zu beachten ist insbesondere das Ziel der Evaluation. Im Unterschied zur Evaluation der Schulversuche mit der Gesamtschule 1971 – 1983 handelt es sich nicht darum, Grundlagen für eine schulpolitische Entscheidungsfindung bereitzustellen, sondern um eine Rechtfertigung einer bereits getroffenen schulpolitischen Entscheidung, nämlich der Einführung der Neuen Mittelschule an Stelle der Hauptschule.

Auf folgende Schwachstellen im Konzept der geplanten bundesweiten Evaluation der Neuen Mittelschule ist hinzuweisen:
- Die Schülergenerationen der Versuchsgruppe (Schüler des Schulversuchs „Neue Mittelschule“ in der 5. Schulstufe 2008/2009 bzw. 2009/2010) sind bezüglich der tatsächlichen Schulorganisation (insbesondere in den Formen der Leistungsdifferenzierung und der Leistungsbeurteilung) nicht homogen. Aus der Palette der Varianten des Schulversuchs sollen nur zwei herausgegriffen werden. In der Mittelschule Vorarlberg wurde an der Einstufung der Schüler in die drei Leistungsniveaus der Hauptschule festgehalten, und nur die Schüler des obersten Leistungsniveaus erhielten ein Zeugnis der Mittelschule. Oder: Die Wiener Mittelschule hat eine spezifische schulorganisatorische äußere Leistungsdifferenzierung durch die Führung von Leistungs- bzw. Übungskursen als Ergänzung der für alle Schüler verbindlichen Grundkurse in Deutsch, Englisch und Mathematik entwickelt. Weiters: In nahezu allen Bundesländermodellen hatten die Eltern die Möglichkeit, zur Abwendung einer Schulstufenwiederholung in den nach dem Lehrplan der AHS geführten Versuchsschulen zu vermeiden. für die Leistungsbeurteilung die leistungsgruppenbezogenen Normen der Hauptschule zu wählen. Die unterschiedlichen Schulversuchsvarianten wurden jedoch im Vergleich nicht evaluiert, sondern es wurde allen Bundesländern durch die Novellierung des SchOG eine bestimmte Schulorganisationsform der Neuen Mittelschule, verbunden mit der Novellierung des SchUG bezüglich der Leistungsbeurteilung, übergestülpt. Dass dies nicht überall reibungslos erfolgte, beweist die Diskussion in Wien. Für die Evaluationsuntersuchung zur generellen Einführung der Neuen Mittelschule ist daher die 5. Schulstufe der Versuchsschulen der Schuljahre 2008/09 bzw. 2009/10 als Versuchsgruppe im experimentellen Design untauglich. Die von Svecnik konzipierte „Schlussuntersuchung“ am Ende des Schuljahrs 2012/13 könnte vielmehr nur zu einer nachträglichen vergleichenden Beurteilung der Schulversuchsmodelle der Bundesländer dienen. Die Ergebnisse der für 2012 vorgesehenen „Erhebung der standortspezifischen Modellrealisierungen“ könnten auch dazu herangezogen werden. Anzumerken ist, dass Svecnik für doese Schlussuntersuchung die Ergebnisse der Bildungsstandards-Untersuchung in Mathematik heranziehen wollte, bei der Veröffentlichung dieser Daten jedoch ein getrennter Ausweis der Befunde der Neuen Mittelschule als nicht sinnvoll bezeichnet wurde.
- Als Versuchsgruppe für eine summative Evaluation (Vergleich des Kompetenzenerwerbs in D, E, M zwischen der Neuen Mittelschule und der traditionellen Hauptschule) der Einführung der Neuen Mittelschule kann nur der der Schülerjahrgang der 5. Schulstufen der Neuen Mittelschulen im Schuljahr 2012/13 bzw. 2013/14 dienen, welche bereits nach der einheitlichen Organisationsform der Neuen Mittelschule (Novellierung der SchOG § 21a-h, § 40 Abs. 2a, § 68 Abs.4), dem Lehrplan der Neuen Mittelschule und den darauf bezogenen Regelungen der Leistungsbeurteilung (Novellierung der SchUG § 18 Abs. 2a) geführt werden. Sollte man an Stelle einer Gesamterhebung eine Stichprobenuntersuchung vornehmen, so dürfte diese Stichprobe nicht nur aus den Versuchsschulen bestehen. Zu kontrollieren wäre bei einer Stichprobenplanung neben dem Verhältnis von Versuchsschulen und „Startschulen“ auch die Variable der regionalen Übergangsquoten in die AHS-Unterstufe. Bei der Bildung der Kontrollgruppe der Untersuchung könnte man den Überlegungen Svecniks folgen und die 8. Schulstufe der „Start“-Schulen heranziehen, die noch nach der Schulorganisation, dem Lehrplan und den Beurteilungsregelungen der Hauptschule geführt werden. Die Schlusuntersuchungen könnten dann 2015/16 bzw. 2016/17 erfolgen. Als Instrument der Kompetenzenfeststellung sollte man die von Svecnik vorgesehenen Kurzskalen aus den Bildungsstandards-Tests heranziehen. Aus den unterschiedlichen Lehrplänen können keine Probleme entstehen, da ja grundsätzlich alle Arten der Schulen für die Zehn- bis Vierzehnjährigen mit den gleichen Bildungsstandards-Tests untersucht werden.
- Besondere Beachtung sollte man der Schülerguppe schenken, welcher die Berechtigung zum prüfungsfreien Übertritt in die AHS-Oberstufe bzw. BHS zuerkannt wird. Sie wäre im Vergleich nach quantitativen und qualitativen Kriterien zu charakterisieren. Ergänzende Daten könnten der österreichischen Spezialauswertung der PISA-Daten gewonnen werden. Im Bereich der Pflichtschulen wäre dort zwischen Absolventen der Hauptschule und der Neuen Mittelschule zu differenzieren.
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Der genauen Untersuchung der Ergebnisse im Kompetenzenerwerb in der Neuen Mittelschule einerseits und der Hauptschule mit Leistungsniveaudifferenzierung in der Form fachspezifischer Leistungsgruppen andererseits kommt aus mehreren Gründen große Bedeutung zu. Der erste ist sicher der Beitrag zur intendierten Rechtfertigung der Einführung der Neuen Mittelschule. Ein anderer besteht darin, dass sich einige ÖVP-Politiker für die Einführung einer Gesamtschule für die Sekundarstufe I ausgesprochen haben, wenn diese eine transparente Leistungsdifferenzierung aufweisen würde. Dafür wären due Leistungen der Hauptschule interessant.

Dabei bedarf der Begriff der „inneren Differenzierung“ einer Klärung. Er wird von den Politikern in einem allgemeinsprachlichen Verständnis als Differenzierung innerhalb einer Schulform verstanden, unabhängig von ihrer Organisationsform. Schulorganisations-Experten verwenden ihn hingegen in einem fachsprachlichen Verständnis für die Individualisierung des Unterrichts in einer leistungsheterogenen Stammklasse an Stelle der Führung von Leistungsgruppen („äußere Differenzierung“).

Solche transparente Differenzierungsformen können nach zwei verschiedenen Prinzipien gestaltet werden. Ein erstes, das auch der derzeitigen Leistungsdifferenzierung in der Hauptschule zugrunde liegt, geht von der Bestimmung der höchsten Leistungsebene aus. Die unteren Leistungsniveaus werden durch quantitative und qualitative Lehrstoffreduzierungen gebildet. Diese Vorgangsweise ist fragwürdig geworden. Das oberste Leistungsniveau als AHS-Niveau zu bestimmen, erscheint nach den Ergebnissen der Bildungsstandard-Untersuchung in Mathematik mit ihrer breiten Leistungsstreuung über die Schultypen hinweg nicht mehr möglich

Ein zweiter Differenzierungsansatz geht von der Struktur der österreichischen Lehrpläne aus. Es werden die Lehrinhalte in Kernstoffe (für ihre Behandlung sind zwei Drittel der verfügbaren Unterrichtszeit zu verwenden) und Erweiterungsstoffe gegliedert. Diese Lehrplanstruktur legt die Bestimmung der Differenzierungsebenen von der unteren Ebene aus nahe, wie dies beispielsweise in der Wiener Mitelschule konzipiert war. In der Gesamtschule werden dementsprechend verbindliche Grundkurse für alle Schüler geführt, ergänzt durch Erweiterungs- bzw. Übungskurse, die entsprechend der unterschiedlichen Lernbefähigung besucht werden. Die höchste Leistungsebene, an welche die prüfungsfreie Übertrittsberechtigungen in die Oberstufe der höheren Schulen gebunden werden, wird durch die kontinuierliche Zugehörigkeit zu den Leistungskursen definiert.

Tempora mutantur ! Vielleicht findet in einer zukünftigen gemeinsamen Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen die Wiener Mittelschule des Schulvesuchs eine Wiederauferstehung.