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Über den Umgang mit Lehrplänen angesichts der output-orientierten Steuerung des Unterrichts

von Helmut Seel
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Die Lehrpläne der österreichischen Schulen sind eindrucksvolle fachsystematische und – dies schon weniger – fachdidaktische Gestaltungen. Ihr Problem: Lehrer kennen sie nicht sehr gut und sie haben geringe Relevanz für die Unterrichtswirklichkeit. Der Lehrer greift lieber zu einem approbierten Lehrbuch als Wegweiser für den Unterricht. Bei der Approbation eines Lehrbuchs ist jedoch eines der wesentlichsten Kriterien, ob es den Lehrplan auch vollständig abbildet. Damit werden approbierte Lehrbücher zu problematischen Hilfsmitteln des Lehrers. Ein wichtiger Grund hiefür: Die Lehrpläne der Unterrichtsgegenstände scheinen meist ohne Zeitkalkül erstellt. Es wird von den Lehrplanverfassern zu wenig bedacht, welches Ausmaß an Lernzeit / Unterrichtszeit und außerunterichtliche häusliche Lernprozessergänzung wie individuelle Verständnishilfe, Einprägung, Übung. Wiederholung vor Prüfungen zu veranschlagen ist. Die Stundentafel der Unterrichtsgegenstände als wesentlicher Bestandteil der Lehrpläne scheint den Verfassern der Lehrziel- und Lehrstoffkataloge nicht bekannt zu sein.

In der realen täglichen Unterrichtspraxis wird das Problem noch größer. Denn auch die Stundentafeln in den Lehrplänen sind fiktive Größen angesichts des Kalendariums (Feiertage, Ferienzeiten) und der schulisch bedingten Zeitfaktoren (Schulveranstaltungen, schulautonome Ferialtage). All diese Faktoren erfordern Jahr für Jahr eine Neuberechnung der verfügbaren Unterrichtszeit für jeden Unterrichtsgegenstand, die sich in unterschiedlichen Möglichkeiten zur Bewältigung der Lehrplaninhalte niederschlagen müssen. Die Schülerleistungen am Ende des Schuljahrs sind daher Jahr für Jahr von Zeitfaktoren beeinflusst. Und sollte der Lehrer auch als Klassenvorstand fungieren, muss er davon noch die Zeit für lästige administrative und wichtige pädagogische Aktivitäten in Abzug bringen.

Diese Probleme sind der Schulpädagogik und Didaktik längst bekannt. Den Lehrern wird „Mut zur Lücke“ (M. Specht 1949) in der Auseinandersetzung mit den Lehrplänen geraten. Die Didaktik entwickelte in den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts das „Exemplarische Lehren“ als Strategie zur Bewältigung des Stoff-Zeit-Problems (vgl u. a. M. Wagenschein: Das exemplarische Lehren als Weg der Erneuerung der höheren Schule 1958, J. Derbolav: Das Exemplarische im Bildungsraum des Gymnasiums 1957, H. Scheuerl: Die exemplarische Lehre 1958, W. Klafki: Die didaktischen Prinzipien des Elementaren, Fundamentalen und Exemplarischen 1961). Eine systematische Darstellung des exemplarischen Lehrens findet sich in der „Allgemeinen Unterrichtslehre“ (Wien 1974/1984 3.Aufl., S. 114 ff./136 ff.) des Verfassers. Als fachdidaktischer Hinweis findet es sich das Prinzip des exemplarischen Lehrens auch (noch) in manchen Lehrplankommentaren.

Die Lehrer gehen (und gingen immer schon) mit der Bewältigung des Stoff-Zeit-Problems unterschiedlich um. Gute Lehrer wählen die wichtigen Themen aus den Lehrplänen unter Bezugnahme auf die zur Verfügung stehende Zeit aus. Manche orientieren sich dabei ausdrücklich an der genannten Theorie des exemplarischen Lehrens. Ihr „Mut zur Lücke“ ist geplant und fundiert, sie praktizieren eine konstruktive Stoffbeschränkung. Sie definieren dabei Lernziele und kontrollieren ihre Erreichung. Weniger gute Lehrer werden mit der Erledigung des Lehrstoffes in der verfügbaren Zeit einfach nicht fertig. Ihr „Mut zur Lücke“ ergibt sich als Zufallsprodukt am Ende des Schuljahrs.

Beide Strategien sind angesichts der aktuellen outputorientierten Kontrolle der Schülerleistungen nicht mehr anwendbar. Die Prüfungssysteme (Bildungsstandards-Tests, Zentralmatura-Aufgabenstellungen) beziehen sich auf den vollständigen Lehrplan und bringen dadurch die Lehrer unter Druck. Weniger gute Lehrer lösen das Problem des Vollständigkeitswahns auf den Rücken der Schüler. Für die Lehrstoffteile, die aus Zeitgründen nicht mehr oder nicht mehr ausreichend unterrichtlich bearbeitet werden können, erhalten die Schüler Skripten und/oder Aufgabensammlungen zur selbständigen, notwendiger Weise von Eltern und Nachhilfelehrern unterstützten häuslichen Bearbeitung. Gute Lehrer hingegen, welche den Weg der Schülerbelastung nicht gehen wollen, müssen gegen diese Prüfungssysteme protestieren, weil sie ihre individuelle Unterrichtsqualität zerstören und sie zu weniger guten Lehrern machen wollen. Sie verdienen bei ihrem Protest jede Unterstützung der Unterrichtswissenschaft!

Dass das aufgewiesene Stoff-Zeit-Problem in der Oberstufe der höheren Schulen durch die Modularisierung der Lehrpläne noch potenziert wird, sei abschießend nur noch erwähnt.