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Der Nationale Bildungsbericht 2012 – Was können Daten und Fakten verändern?

von Klaus Satzke
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Der Nationale Bildungsbericht „Österreich 2012“ formuliert es nicht so drastisch, befördert die Wahrheit aber dennoch ans Licht: Mehr als 10 Jahre erregte Diskussion über die PISA-Ergebnisse sind nichts als heiße Luft gewesen. Trotz aller Beteuerungen und Absichtserklärungen haben sich weder die Ergebnisse verbessert noch haben Maßnahmen – sofern diese überhaupt gesetzt wurden – etwas bewirkt.

Gegen Ende 2012 hat bereits der Erziehungswissenschaftler Ferdinand Eder den Sachverhalt so formuliert:  "Es lassen sich so gut wie keine Bereiche ausmachen, in denen seit der ersten PISA-Testung im Jahre 2000 eine Veränderung zum Positiven stattgefunden hätte".

 

Der Nationale Bildungsbericht belegt nun, beispielsweise im Abschnitt  „Lesekompetenz, Leseunterricht und Leseförderung im österreichischen Schulsystem“, wo die konkreten Schwachstellen liegen. Zur Illustration einige Zitate aus der Analyse:

 

 

„Insgesamt wird in Österreich relativ wenig Unterrichtszeit für das Lesen verwendet. … Hier liegt Österreich an letzter Stelle von 13 Vergleichsländern, was den Anteil der Schüler/innen betrifft, die mehr als sechs Stunden pro Woche im Unterricht lesen.“

 

„Es zeigen sich deutlich erkennbare Unterschiede zwischen Klassen im Leseunterricht. In der Erhebung von Schabmann (2007) gab es Lehrer/innen, die das Lesebuch so gut wie nie verwendeten, und solche, die es regelmäßig einsetzten und vollständig mit den Kindern durcharbeiteten.“

 

„Die Anzahl der Tage, an denen es Einzelbetreuung für schwächere Leser/innen durch die Lehrerin oder den Lehrer gab, reichte von 0 bis 7 von insgesamt 10 erfassten Unterrichtstagen, d. h. es gab Klassen, in denen schwache Schüler/innen keinerlei individualisierte Hilfe erhielten.“

 

„Die explizite und strukturierte Förderung des Leseverständnisses hat in Österreich im Unterricht so gut wie keine Tradition.“

 

„Die Analysen zu PISA 2009 ergeben weiters, dass Österreich in der Anwendung aller

didaktischen Methoden zur direkten Förderung des Leseverständnisses, die abgefragt wurden (bei PISA im Kontext Leseengagement berichtet), z. T. deutlich unter dem OECD-Durchschnitt liegt.“

 

„Im Gegensatz … zu EU-Ländern mit besseren Ergebnissen … verfolgen relativ wenige Schulen strukturierte Initiativen, die direkt in den formellen Leseunterricht eingreifen. Nur 29 % der Schüler/innen besuchen Schulen mit eigenen Richtlinien zur Koordination des Leseunterrichts und sehr wenige Schüler/innen (7 %) gehen in eine Schule mit einer schuleigenen schriftlichen Ausarbeitung eines Leselehrplans.“

 

„Dazu kommt, dass die Erfolge des Erstleseunterrichts an den Schulen in Österreich so gut wie nicht evaluiert werden.“ … „Eine Kultur regelmäßiger Evaluationen besteht in Österreich nicht oder erst seit Kurzem und wenn, dann liegt der Fokus zumeist auf dem Lehrer-Schüler-Verhältnis, den Aktivitäten außerhalb des Lehrplans und dem Feedback von Eltern, weniger auf den Unterrichtsmethoden und den erzielten Leistungen.“

 

„Vielfach werden (an den Pädagogischen Hochschulen, A.d.Verf.) die Fertigkeiten und Strategien, die LeserInnen  brauchen … um Sinn zu entnehmen, nicht ausreichend unterrichtet. … Besonders die Themenbereiche Lesedefizite / Legasthenie sind an einigen Pädagogischen Hochschulen nicht Gegenstand der Grundausbildung von PflichtschullehrerInnen, sondern werden erst im Rahmen der Lehrerfortbildung angeboten.

 

Diese niederschmetternde Faktenlage zeigt, dass von der österreichischen Bildungspolitik einerseits zentrale Probleme oftmals gar nicht erkannt werden, andererseits Maßnahmen (die oft auch nur Ankündigungen sind) die Schulen gar nicht erreichen. Die Autoren und Verantwortlichen des Bildungsberichtes sind sich des Problems zwar bewusst, aber man bekommt nicht den Eindruck, dass sie einen Ausweg aus dem Dilemma kennen. Da heißt es beispielsweise: „Eine der wichtigen Lehren infolge des ersten NBB 2009 besteht in der Notwendigkeit verbesserter Rezeption und damit auch Dissemination des Berichtes.“ Und einige Zeilen darunter: „… ist die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Verwaltung im Rahmen der Erstellung eines Nationalen Bildungsberichtes als länger andauernder Lernprozess zu verstehen.“

 

Diese milden Worte, die auf Geduld und Hoffnung setzen, gehen an der Tatsache vorbei, dass hier ein systemisches Problem vorliegt, das nur bewältigt werden kann, wenn Wissenschaft und Bildungspolitik „die unterschiedlichen Produktionslogiken“ (eine Formulierung aus dem Bildungsbericht) im jeweiligen Bereich erkennen und verändern. Mit anderen Worten: Mit einer Analyse, die ausklammert, wie ein komplexes Schulsystem „funktioniert“ bzw. wo und wie es nicht funktioniert, wie die Mechanismen der Schulverwaltung auf den verschiedenen Ebenen und zwischen den Ebenen ablaufen, welche Kompetenzlage welche Zuständigkeiten generiert bzw. welche Formen der Kommunikation bzw. Nicht-Kommunikation stattfinden, der folgt der Produktionslogik des Wissenschaftsbetriebes, kann aber keine nachhaltige Wirkung auf Bildungspolitik und Schulverwaltung ausüben.

 

Bildungssysteme haben konkrete Strukturen im Entscheidungs- und Verantwortungsbereich, sie haben einen spezifischen Behördenaufbau, historisch gewachsene Verwaltungstraditionen und mehr oder weniger große Freiräume für die Akteure unmittelbar am Schulort. Es ist reichlich naiv, dieses komplexe System mit Daten und Fakten zu „füttern“ und zu glauben, dass das irgendwann schon zu Veränderungen führt. Es ist zwar nicht Aufgabe der Wissenschaft, eine bestimmte Systemveränderung zu propagieren, aber es sind Systemanalysen erforderlich, die zeigen, dass Misserfolge einer eigenen Systemlogik folgen. Hinweise auf mehr und bessere Ausbildung bzw. Fortbildung sind gut und schön, aber man kann auch nicht verschweigen, dass sich bei vielen Aufgaben die unterschiedlichen politischen Ebenen und die Verwaltungsebenen blockieren. Was ein Minister ankündigt, vielleicht auch mittels Lehrplänen, Zukunftswerkstätten und Medienkoffern initiiert, das ist im jeweiligen Landesbereich noch lange nicht gegessen. Und was ein Lehrerteam an einem konkreten Schulort machen will, das ist auch noch nicht verwirklichbar, wenn die Schulaufsicht anderer Meinung ist. Und was eine einzelne Schule will, das bedarf auch einer regionalen Abstimmung, und diese bedarf wiederum einer Regionalplanung, für die es aber leider keine Strukturen gibt. Die Fakten, die sich aus der Realität der Nachbarschaftsschulen einer Volksschule ergeben (Hauptschule, AHS, sozio-ökonomische Situation der Region etc.), sind oftmals „schlagender“ als wissenschaftliche Empfehlungen.

 

Politik, und hier vor allem die sogenannte Tagespolitik, hat oft die Neigung, die Dinge als prinzipiell machbar darzustellen und Ankündigungen medial bereits als Realität erscheinen zu lassen. Analysen und Evaluationen (wie sie u.a. der Nationale Bildungsbericht liefert) sind in diesem Zusammenhang daher unerlässlich. Der Bildungspolitik und darüber hinaus der Öffentlichkeit ist aber darüber hinaus auch zu veranschaulichen, dass es systemische Zusammenhänge gibt, die auch gut gemeinte Vorhaben regelmäßig abwürgen. In diesem Sinne braucht die Weiterentwicklung des Schulwesens nicht nur zusätzliche wissenschaftliche Analysen, sondern deutliche Hinweise darauf, dass ein so teures Schulwesen wie das österreichische schlicht und einfach Bewegung und Veränderung braucht, will es die ernsten Probleme lösen und die Ressourcen wirkungsvoll einsetzen. Die Art der Behandlung des Bildungsvolksbegehrens im Parlament hat gezeigt, dass der Weg in diese Richtung steinig ist.