Die Schulorganisation als Entwicklungsprozess
von Helmut SeelArtikel drucken
Mit dem Ende der Gesetzgebungsperiode ist auch die Ära Schmied der österreichischen Schulentwicklung zu Ende gegangen. Bildungsstandardtests lassen Leistungsdefizite der Neuen Mittelschule gegenüber der Hauptschule erkennen. Es macht Sinn, in dieser Situation die Entwicklung der Schulorganisation bezüglich der Sekundarstufe 1 (Stufe zwischen Grundstufe und Ende der Schulpflicht mit Übertritten in drei Oberstufenschulen) Revue passieren zu lassen.
1869 brachte das Reichsvolksschulgesetz die schulgeldfreie achtklassige Volksschule zur Erfüllung der Schulpflicht vom sechsten bis zum vierzehnten Lebensjahr. Daneben bestanden als schulgeldpflichtige Mittelschulen (Schule zwischen Grundschule und Hochschule) seit 1852 das Gymnasium und die Realschule mit Maturaabschluss. In die Mittelschule wurde meist nach der fünften Schulstufe der Volksschule übergetreten, in geringerem Ausmaß auch nach der vierten oder der sechsten Schulstufe. Die letzten drei Schulstufen der Volksschule konnten für die befähigten Kinder auch als Bürgerschule mit Fachlehrerunterricht geführt werden.
1920 wurde von den Sozialdemokraten die Öffnung der Mittelschule als Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen gefordert. Die Allgemeine Mittelschule sollte zur Differenzierung nach Leistungsfähigkeit zwei Klassenzüge führen. Aus dem ersten Klassenzug sollte der Übertritt in alle Oberstufenschulen möglich sein.
1927 folgte ein schulpolitischer Kompromiss. Die alte Mittelschule blieb als Wahlschule ab der vierten Schulstufe bestehen. Neben der Unterstufe der Mittelschule bestand als Pflichtschule die Hauptschule mit zwei Klassenzügen. Die Lehrpläne zwischen Mittelschul-Unterstufe und Hauptschule wurden koordiniert, für Schüler des ersten Klassenzuges war mit „gutem Gesamterfolg“ der prüfungsfreie Übertritt in die Mittelschule möglich. Diese Schulorganisation wurde im autoritären Ständestaat (1934-1938) wieder abgeschafft.
1945 wurde mangels Einigung auf Reformkonzepte auf die Schulorganisation von 1927 zurückgegriffen.
1962 wurde die traditionelle Mittelschule in Allgemeinbildende höhere Schule (AHS) umbenannt.
1970 wurde in einer Ära des Reformbewusstseins und der Reformbereitschaft ein Schulversuch mit der Integrierten Gesamtschule (IGS) begonnen. Die IGS kombinierte die leistungsheterogene Stammklasse (Realienfächer, künstlerische Fächer) mit Leistungsdifferenzierung auf drei Ebenen (Leistungsgruppen) in den Sprachen und in Mathematik. Die erste Leistungsgruppe entsprach dem Leistungsniveau der AHS, daher war ein prüfungsfreier Übertritt in die Oberstufenschulen (AHS, BHS) möglich. Die wissenschaftliche Evaluation als Vergleichsuntersuchung zeigte: Leistungsgleichheit in der AHS und der ersten Leistungsgruppe, Leistungsverbesserung bei schwächeren Schülern, besseres Schulklima (weniger Prüfungsangst und bessere Schulzufriedenheit) in der IGS.
1983 erfolgte auf Grund des Widerstands der ÖVP keine Einführung der IGS als Allgemeine Mittelschule, vielmehr wurde die Organisationsstruktur der IGS auf die Hauptschulen übertragen. Die Lehrpläne der AHS-Unterstufe und der Hauptschule wurden wortgleich gestaltet.
2007 präsentierte die Bundesministerin Dr. Schmied die Neue Mittelschule (NMS) als Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen und wollte sie in der Schulorganisation verankern. Die ÖVP lehnte ab, es wurden Schulversuche auf der Grundlage einer Novellierung des Schulorganisationsgesetzes (Einführung des § 7a) eingeführt. Auf Landesebene wurden unterschiedliche Modelle der NMS mit der Rahmenvorgabe entwickelt, keine Leistungsgruppen zu führen, sondern Individualisierung durch Teamteaching (Zweilehrersystem) zu erreichen.
2011 wurde ohne Rücksichtnahme auf die Bundesländermodelle die Schulorganisation der NMS durch das BMUKK für ganz Österreich festgelegt. In der dritten und vierten Klasse (7. u. 8. Schulstufe) werden nun die Schülerleistungen durch die Anmerkungen „Grundlegende Allgemeinbildung“ bzw. „Vertiefte Allgemeinbildung“ gekennzeichnet. Den Schülern mit „Vertiefter Allgemeinbildung“ wird der prüfungsfreie Übertritt in die Oberstufe der höheren Schulen (AHS, BHS) zuerkannt.
2012 arrangiert sich die Bundesministerin mit der ÖVP. Die AHS Unterstufe bleibt bestehen, alle Hauptschulen werden in Neue Mittelschulen umgewandelt.
Diese Entwicklung ist in der Zukunft zu verlängern und eine „Neueste Mittelschule“ (oder einfach Mittelschule) für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen zu entwickeln. Sie könnte aus einer Kombination aus der NMS und dem Modell der Wiener Mittelschule bestehen: 5. und 6. Schulstufe Teamteaching in heterogenen Stammklassen, 7. u. 8. Schulstufe lehrplanbezogenes Kurssystem (Grundkurs für alle in zwei Drittel der Unterrichtszeit, Erweiterungs- oder Vertiefungskurs je nach Leistung in einem Drittel der Unterrichtszeit). Schülern, die durchgehend den Erweiterungskurs besuchten, wird der prüfungsfeie Übertritt in die Oberstufenschulen ermöglicht.
Diese Organisationsform der Mittelstufe scheint für einen Kompromiss zwischen SPÖ und ÖVP tauglich: Integration in den Schulstufen 5 und 6, Differenzierung in den Schulstufen 7 und 8.