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Datenloch und Testsysteme – Ein Rat für die Unterrichtsministerin

von Helmut Seel
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Die österreichische Politik hat mit Löchern Probleme. Der Finanzminister versucht das Budgetloch auszuloten, die Unterrichtsministerin wurde durch das Datenloch so erschreckt, dass sie alle Tests im Schulsystem ganz absagt oder doch verschiebt will. Nun nimmt sie die Entscheidung bezüglich PISA zurück. Dies ist deswegen bedauerlich, als diese Testung im Vergleich mit TIMSS oder den Bildungsstandards-Tests die geringste Bedeutung für die österreichische Schulentwicklung hat.

Dies bedarf einer Erläuterung. „Program for International Student Assessment“ (PISA) ist ein von der OECD entwickeltes Prüfungssystem, das die Grundlagen der zukünftigen Arbeitstüchtigkeit junger Menschen erfassen möchte: Lesefähigkeit als Voraussetzung zur Entnahme von Informationen und Instruktionen aus Texten, mathematisches sowie naturwissenschaftliches Verständnis (als Grundlagen der technischen Produktionssysteme) bei den Fünfzehn- bis Sechzehnjährigen am Ende der meist neunjährigen Schulpflicht in verschiedenen Staaten.

Die PISA-Testung weist beginnend im Jahr 2000 eine dreijährige Folge auf, wobei jeweils einer der drei Teilbereiche den Schwerpunkt bildet. Der dreijährige Abstand ist durch notwendige Vorbereitung bedingt: Unter Beachtung der Lehrplanziele in den verschiedenen Staaten wird zunächst ein Testsystem erstellt, das im zweiten Jahr einer Erprobung unterzogen und das Testsystem endgültig festgelegt wird. In der ersten Jahreshälfte des dritten Jahres wird die Prüfung in den teilnehmenden Staaten durchgeführt. Die Ergebnisse werden am Ende des dritten Jahres veröffentlicht.

Der Test wird von einer repräsentativen Zufallsstichprobe der Fünfzehn- bis Sechzehnjährigen absolviert. Die Erstellung der Stichprobe ist in Österreich vergleichsweise schwierig, da sich die Schüler der neunten Schulstufe in verschiedenen Schularten befinden: 5. Klasse der AHS, 1. Jahrgang der verschiedenen berufsbildenden mittleren und höheren Schulen sowie in der Polytechnischen Schule. Auf Grund der spezifischen österreichischen Schulpflichtregelungen (9 Schuljahre ab dem sechsten Lebensjahr, wobei die Vorschulstufe und Wiederholungsjahre eingerechnet werden) finden sich Fünfzehn- bis Sechzehnjährige auch in der Hauptschule/Mittelschule und ein geringer Prozentsatz der Altersgruppe hat das Schulsystem bereits regulär verlassen.

Der Test wird von schulfremden Prüfern durchgeführt und zentral ausgewertet. Den Aufgaben werden Punktewerte zugeordnet. Der Mittelwert aller Prüfungen kann dann mit den nationalen Mittelwerten verglichen werden. Aus den Mittelwerten der Staaten kann eine Rangreihe gebildet werden, mit Hilfe statistischer Verfahren kann die Zufälligkeit oder Erheblichkeit der Abstände berechnet werden. Die über alle PISA-Testungen hinweg festgestellten Leistungsdefizite österreichischer Schüler werden durch Messungen allein nicht verbessert. Zur notwendigen Reform der Sekundarstufe I des österreichischen Schulsystems ist die Bildungspolitik nicht bereit.

Für unser Schulsystem sind auf Grund der pädagogischen Zielstellung und der inhaltlichen Gestaltung die Untersuchungen der IEA (International Association for the Evaluation of Eduational Achievements), einer wissenschaftlichen Institution, bedeutsamer. Dazu zählen TIMSS (Trends in International Mathematic and Science Study), besonders in der Version für die Grundschule (4. Schulstufe), sowie PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study). Dass die Unterrichtsministerin die Absage der TIMSS-Prüfung angesichts der dringend notwendigen Reformen in der Grundschule aufrechterhalten will, ist unverständlich. Bei den letzten Testungen mit diesen Verfahren zeigte sich, dass die defizitären Leistungen mancher Schüler am Ende der Sekundarstufe I bereits am Ende der Grundschule vorprogrammiert sind. Allerdings wird eine grundlegende Grundschulreform ohne Reform der Sekundarstufe I nicht gelingen. Die Grundschule ist vom Selektionsdruck zu befreien, die Auswahl für die unterschiedlichen Bildungslaufbahnen ist in die Sekundarstufe I zu verlagern.
Für die Schulentwicklung am wichtigsten sind die Bildungsstandards-Tests, welche für die 4. Schulstufe im Wechsel zwischen Deutsch und Mathematik, für die achte Schulstufe in der Folge von Mathematik, Fremdsprache und Deutsch vorgesehen sind. Ihre Absage oder ihr Aufschub ist besonders zu bedauern. Die Bildungsstandards-Tests werden vom BIFIE entwickelt, von den Lehrern mit allen Schülern durchgeführt und zentral ausgewertet. Inhaltlich sind sie auf die österreichischen Lehrpläne bezogen. Ausgehend von den Ergebnissen der einzelnen Schüler sind Vergleiche von Klassen- oder Schulergebnissen sowie Reihungen der Bundesländer möglich. Die Ergebnisse können die Grundlage individueller Fördermaßnahmen sowie der Berücksichtigung schwieriger sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen einzelner Schulen bilden.

Diesen zu erwartenden positiven Effekten stehen allerdings höchst problematische ungewollte Nebenwirkungen gegenüber. Schon bisher ist unser allgemeinbildendes Schulsystem durch eine fragwürdige Gruppierung in „Hauptfächer“ mit höherer Stundendotierung und „Schularbeiten“ (Sprachen , Mathematik) und „Nebenfächer“ (Realien, musisch-technische Lernbereiche) gekennzeichnet. Diese Tendenz wird durch die Einführung der Bildungsstandards in dem „Hauptfächern“ verstärkt. Im Hinblick auf die Bildungsaufgabe der Schulen ist dies verfehlt. Bildung ist zu kennzeichnen als die Fähigkeit zum Erkennen und Verstehen, zum begründeten Beurteilen, abwägenden Entscheiden und verantwortungsbewussten Handeln in gesellschaftlichen und persönlichen Problemsituationen. Dies setzt das Vertraut sein mit solchen Problemfeldern voraus: Wissen, Verstehen und Können in den Realien („Sach“-Fächern) und in künstlerischen und bewegungsmäßigen Ausdrucks- und Gestaltungsbereichen. Diesen ist in unseren Schulen daher die angemessene Beachtung zu schenken. Dazu kommen noch die „Unterrichtsprinzipien“, gesellschaftlich und individuell wichtige Lernbereichen, denen kein eigenes Unterrichtsfach entspricht.

Unabhängig von allen Überlegungen über Prüfsysteme wäre allerdings eine umfassende Lehrplanreform angebracht, welche den aus der Mitte des 19. Jahrhundert stammenden und nur durch fragwürdige Anstückelungen (z. B. Geographie und Wirtschaftskunde) modifizierten Fächerkanon zu reformieren und zu aktualisieren. Dabei müsste insbesondere auch das Verhältnis der verfügbaren Lernzeiten und der vorgesehenen Lernziele bedacht werden.