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Das BIFIE meldet: Zweiter Probelauf gelungen! Einige Gedanken zur Zentralmatura

von Helmut Seel
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Der zweite Probelauf der Zentralmatura an den AHS scheint, ausgenommen marginaler organisatorischer und einiger substantieller inhaltlicher Probleme, gelungen zu sein. Es ist daher durchaus an der Zeit, einige grundlegende Überlegungen zur Zentralmatura anzustellen.
Es ist daran zu erinnern, dass die Einführung der Zentralmatura in Österreich Teil einer dem neoliberalen Zeitgeist entsprechenden Output-Kontrolle im Schulwesen darstellt. Am Ende der Schulpflicht wird beispielsweise durch die von der OECD getragenen internationalen PISA-Prüfung untersucht, ob und wie weit das Schulwesen der Staaten das Arbeitsvermögen der Heranwachsenden in Form des Lesekönnens und des mathematischen und naturwissenschaftlichen Verständnisses herstellen kann. Die Zentralmatura überprüft die von Maturanten zu erwartenden Kompetenzen in der Muttersprache, in den gewählten Fremdsprachen und in Mathematik. Eine international einheitliche Prüfung wäre in Zukunft ohne übertriebene Phantasie denkbar, etwa im Sinne einer internationalen Feststellung der Voraussetzungen zum Hochschulzugang mit entsprechendem Staaten-Ranking.
Die Einführung der Zentralmatura ist aber auch als Instrument einer besseren Kontrolle der Leistungen der Lehrer zu sehen. Schon in einer Untersuchung des Pädagogik-Professors der Universität Graz E. Martinak im Jahre 1908 (Artikel „Maturitätsprüfung“ in: Loos, Handbuch der Erziehung II) wird nach Prüfung aller Argumente für die Matura festgestellt, dass dies der einzige stichhaltige Grund ist. Als ein solches Überprüfungsinstrument sei sie bei Gründung der achtklassigen Gymnasiums 1849 und der Einrichtung einer Lehramtsprüfung 1856 zu Recht eingeführt worden. Martinak betrachtete sie als „notwendiges Übel“, meint aber: „Eine immer vollkommenere Ausgestaltung des höheren Schulbetriebes, ja des gesamten Bildungswesens, reiche Differenzierung der Schulgestaltung, Zurückdrängen der Berechtigungen, eine zunehmende Wertschätzung des Menschen und seines wirklichen Wissens und Könnens gegenüber dem, was er Schwarz auf Weiß an Zeugnissen vorweisen kann, wachsende Achtung vor tüchtigen Persönlichkeiten etc., kurz eine durchgreifende Besserung und Ethisierung allen geistigen Tuns wird nach und nach auch diese Prüfungsform überflüssig machen.“ Mehr als hundert Jahre später muss leider festgestellt werden: Der pädagogische Optimismus hat den großartigen Analytiker Martinak die Stärke der Beharrungstendenzen von Institutionen unterschätzen und die Innovationsbereitschaft der Schulverwaltung überschätzen lassen.
Man vermutet auch heute noch Unterschiede in den Maturaleistungen an den einzelnen Schulen und Klassen, die durch die Input-Steuerung des Schulwesens (Schulgesetze und Verordnungen, Lehrpläne mit didaktischen Grundsätzen, approbierte Lehrmitteln und eine auf Professionalisierung abzielende Lehrerbildung) nicht zu beheben sei. Man strebt mit der Zentralmatura mehr Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit der Leistungen der Maturanten an, obwohl auch in den bisherigen Maturavorschriften die Wahl der Aufgaben für die schriftliche Reifeprüfung aus den Vorschlägen der Lehrer durch den Vorsitzenden erfolgte und diesem die Arbeiten mit der Beurteilung durch die Lehrer vorzulegen waren.
Der Bericht über die Probeläufe verschweigt, ob ein solcher Sachverhalt festgestellt werden konnte. Der Vergleich der Zentralmatura mit der bisherigen Reifeprüfung sei nicht möglich, wird bekanntgegeben. Hier irrt das BIFIE. Eine Gegenüberstellung der Beurteilungen der Zentralmatura mit denen der traditionellen Reifeprüfungen an diesen Schulen wäre möglich, ebenso wie vergleichende Hinweise über die Streuungen der Ergebnisse zwischen den Schulen und Klassen. Aber möglicherweise liegt hier ein Schweigegebot des Ministeriums vor.
Dies führt zu den einleitend genannten substantiellen Problemen des Probelaufs: Kritik an der Änderung der Benotung in den Fremdsprachen während des Prüfungsablaufs und Auswahl des Literaturtextes. Dies hängt wohl mit dem ungeklärten Status des BIFIE zusammen. Ist es eine vom Staat finanzierte unabhängige wissenschaftliche Institution oder eine weisungsgebundene ausgelagerte Abteilung des Unterrichtsministeriums? Als wissenschaftliche Institution könnte das BIFIE für die Zentralmatura einen Pool von Aufgaben mit Angabe ihres Schwierigkeitsgrades und ihre Zusammenstellung zu Gesamtprüfungen entwickeln. Die Entscheidung, welches Gesamtprüfungssystem gewählt wird sowie die Festlegung, welche Punktewerte für eine positive Beurteilung der Prüfung erreicht werden müssen, sind hingegen keine wissenschaftlichen Aufgaben, sondern Akte der Prüfungsgestaltung, also einer amtlichen, hoheitlichen Funktion. Gleiches gilt auch für die Auswahl der Prüfungsaufgaben. Wäre das BIFIE eine wissenschaftliche Institution, müsste ihr diese hoheitliche Aufgabe ausdrücklich übertragen werden. Als Beispiel sind die Universitäten zu betrachten. Ihnen sind die Gestaltung der Curricula und der Prüfungsordnungen als autonome Aufgaben übertragen, wobei in § 51 des Universitätsgesetzes ausdrücklich festgestellt wird, dass hier die Universitäten im Rahmen der Hoheitsverwaltung tätig sind. Der Adressat für Beschwerden würde dadurch fixiert.
Funktioniert hat die Zentralmatura als Instrument für Lehrplanreformen. In den Fremdsprachen ergaben sich keine Schwierigkeiten, da die modernisierten Lehrpläne (Betonung der sprachlichen Kompetenzen in der Kommunikation) bereits voll in den Schulen umgesetzt werden. In Mathematik erfolgte die Lehrplanreform zeitlich nahe zur Einführung der Zentralmatura. Daher ergaben sich Schwierigkeiten bei der Berücksichtigung des neuen kompetenzorientierten Fachverständnisses. In der Muttersprache Deutsch waren die Veränderungen von der traditionellen Matura zur Zentralmatura am größten. Dies steht im Zusammenhang mit der Spezifik dieses Unterrichtsfaches. Es soll Sprachkompetenzen vermitteln und den Kulturbereich Literatur erschließen. In der neuen Matura tritt die Sprachkompetenz in den Vordergrund: Aufgaben mit mehreren Textsorten werden gestellt Die Kultureinführung hinsichtlich der Literatur tritt zurück und leidet an der zentralen Auswahl passender Texte. In der Zukunft sollte der Prüfungsbereich Deutsch der Zentralmatura wohl geteilt werden: Die Hälfte der Prüfungszeit könnte für die zentral vorgegebenen Textsorten-Aufgaben verwendet werden, die andere Hälfte für die Textsorte Interpretation von Literatur-Texten, wobei die Aufgabenstellung in traditioneller Form erfolgen sollte: Der Vorsitzende der Prüfungskommission wählt die Aufgabe aus einer Reihe von Vorschlägen des Lehrers. Damit könnte die individuelle Gestaltung der Literaturpflege im Deutschunterricht berücksichtigt werden.
Abschließend muss aber wohl auf den grundsätzlichen Widerspruch hingewiesen werden, der zwischen der fortschreitenden Professionalisierung des Lehrerberufs einerseits und der Intensivierung der Kontrolle seiner Arbeit andererseits besteht. An E. Martinaks Vision darf erinnert werden!