Zur Bildungschancengerechtigkeit des österreichischen Schulsystems
von Helmut SeelArtikel drucken
„Der Lift fährt ohne sie ab“ titelt Lisa Nimmervoll ihren Artikel im „Standard“ vom 10. 9. zum aktuellen OECD-Bericht. Die Fortsetzung verschweigt sie: „so lange die AHS-Langform besteht“. Sie denkt wohl daran, da sie sofort auf die ÖVP-Forderung hinweist: M. Spindelegger hielt das Gymnasium für „in den Stein gemeißelt“ und Landeshauptmann E. Pröll hat den reformwilligen neuen ÖVP-Vertretern in der Regierung ausrichten lassen: „Das Gymnasium bleibt bestehen !“ Es ist die fragwürdige Schullaufbahnentscheidung nach der 4. Volksschulklasse, welche dazu führt, dass dem österreichischen Schulsystem die „Aufwärtsmobilität“ fehlt. Diese Entscheidung ist in erster Linie vom Interesse der Eltern bestimmt und weniger von der tatsächlichen Befähigung der Schüler und Schülerinnen. Die Eltern mit höheren Bildungsabschlüssen sind daran interessiert, dass ihre Kinder so bald wie möglich im richtigen Zug sitzen, der zur Matura führt.
Die Klassenlehrersituation in der Volksschule trägt dazu bei, dass Fehlurteile getroffen werden. Schon bald nach der Einschulung vermeint der Lehrer oder die Lehrerin manchmal zu erkennen, wer ein zukünftiger Maturant ist, und konzentrieret die Förderung auf diese Schüler. Deren Eltern zeigen sich dazu an den Lernfortschritten ihrer Kinder interessiert, halten mehr Kontakt zum Lehrer und unterstützen die Kinder stärker. Die AHS-Unterstufe fördert diese Entwicklung, indem sie in der Zeit des Schülerzahlenrückgangs ihre Tore weiter öffnet, um Klassenzahlen und damit Lehrerbeschäftigung zu erhalten.
Man sollte bei der Beurteilung des OECD-Berichts auch den Artikel von Bruneforth et al. „Chancengleichheit und garantiertes Bildungsminimum in Österreich“ im „Nationalen Bildungsbericht 2012“ heranziehen. Dass die Situation in Österreich nicht noch schlechter ausfällt, ist dem berufsbildenden höheren Schulen zu danken. „Es zeigt sich, dass der BHS eine kompensatorische Wirkung hinsichtlich der Bildung und des Berufs der Eltern zukommt“ (S. 204), verglichen mit der Schullaufbahnentscheidung bei den Zehnjährigen. Dazu wird „zusätzlich eine kompensatorische Wirkung hinsichtlich des Wohnorts“ (S, 204) nachgewiesen. „Die BHS reduziert somit soziale und regionale Ungleichheiten“ (S, 204).
Eltern mit niedrigerem Bildungsabschluss sind an einem frühen Zeitpunkt ökonomischer Unabhängigkeit ihrer Kinder interessiert. Sie sind auf Grund eines geringen Einkommens wohl auch nicht in der Lage, längere Schullaufbahnen zu finanzieren. Besonders die immer wieder berichtete Notwendigkeit, dass der Schulerfolg nur mit teurer Nachhilfe zu erreichen ist, wirkt abschreckend. Die BHS mit ihrer überschaubaren Dauer und ihrer Kombination der Matura mit einer Berufsqualifikation ist daher attraktiver als der Weg über die AHS-Langform, welche noch dazu nur zur beruflichen Qualifikation durch ein Hochschulstudium führt. Die Verbindung von Allgemeinbildung und Berufsbildung wirkt für bildungsfernere Menschen überzeugender als der Fächerkanon der traditionellen schulischen Allgemeinbildung Die Entscheidung für die BHS wird zudem auch dadurch erleichtert, dass im österreichischen Schulsystem trotz der neunklassigen Schulpflicht nach der 8. Schulstufe eine Schullaufbahnentscheidung zu treffen ist. Das erste Schuljahr an der BHS fällt damit noch in den Zeitraum der Schulpflicht.
Zu diesem Zeitpunkt erscheint eine von der Unterrichtsministerin Heinisch-Hosek geäußerte Reformabsicht besonders fragwürdig. Um die Blockade der ÖVP einer gemeinsamen Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen aufzuweichen, bietet sie ein stufenweises Vorgehen an: die Verlängerung der Gesamtschule Volksschule zunächst bis zu den Zwölfjährigen (6. Schulstufe). Wenn schon keine ganze Gesamtschule für die Zehn- bis Vierzehnjährigen möglich erscheint, dann vielleicht eine halbe (vgl. dazu „Kleine Zeitung“, 10.9.).
Sie hat meines Erachtens die Folgen nicht bedacht. Nach der Schullaufbahnverzweigung nach dem 6, Schuljahr, die möglicherweise begabungsgerechter ausfallen könnte (abhängig von der pädagogischen Gestaltung der 5. und 6. Schulstufe der neuen Grundschule), würde neben der dann sechsklassigen AHS eine nur zwei Schuljahre umfassende Mittelschule als „II. Klassenzug“ entstehen, nach welcher der Übertritt in das berufsbildende Schulwesen erfolgt. Abgesehen von der pädagogischen Problematik einer nur zwei Schulstufen umfassenden Schule wäre die Folge sicher der Verlust leistungsfähiger Schüler und Schülerinnen für die BHS, weil nicht zu erwarten ist, dass diese nach zwei Schuljahren in der AHS diese wieder verlassen und in die BHS eintreten würden. Der Trend, der sich bei einer solchen Mittelstufengestaltung für die BHS erwarten ließe: Verschiebung der Berufsqualifikation in den Bereich der berufsbildenden Kollegs. Der bildungskompensatorische Effekt der BHS würde in dieser Gestaltung der Schulorganisation sicher geschwächt werden.
Im oben genannten Beitrag im Bildungsbericht 2012 wird die Frage einer kompensatorischen Wirkung der (derzeitigen) Neuen Mittelschule bezüglich der Bildungschancengerechtigkeit verneint. Es zeigt sich, „dass die Neue Mittelschule im Wesentlichen eine ähnliche soziale Zusammensetzung aufweist wie die Hauptschule. ... Die starke AHS-Präferenz der Kinder der Eltern mit hoher Bildung hat sich durch die Einführung der Neuen Mittelschule in der Anfangsphase nicht geändert, was einer sozialen Durchmischung der Schülerschaft entgegensteht“ (S. 204). Die Unterrichtsministerin wäre daher gur beraten, wenn sie die Entwicklung der Neuen Mittelschule zu einer leistungsfähigen Mittelstufenschule vorantreiben würde0, welche die beiden Funktionen der Integration (im Sinne der Gleichheit aller Bürger in der Demokratie) und der Selektion (im Hinblick auf die notwendige Leistungsfähigkeit im differenzierten Oberstufenbereich des Schulsystems) überzeugender und transparenter leistet.
Mit der Einführung einer sechsstufigen Grundschule wäre hingegen jedenfalls der Weg zu einer gemeinsamen Schule für alle Heranwachsenden bis zum Ende der Schulpflicht in noch weitere Ferne gerückt. Die Unterrichtsministerin sollte daher nicht einen vielleicht möglichen, aber fragwürdigen bildungspolitischen Erfolg anstreben. Im oben genannten Artikel in der „Kleinen Zeitung“ schlägt die Unterrichtsministerin noch eine andere Halbheit der Schulreform vor: In einzurichtenden Bildungsregionen sollte man zunächst die Hälfte der AHS-Unterstufen in gemeinsame Schulen für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen des Einzugsbereichs umwandeln. Die Vorgangsweise zur Auswahl dieser Hälfte bleibt die Ministerin allerdings schuldig.