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Über den Unsinn einer „Befreiung der Schule vom Schulsystem“!

von Helmut Seel
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„Befreit die Schule vom Schulsystem!“ Der Titel des Beitrags von C. Seidl im STANDARD vom 12. 5. kann wohl als verbaler journalistischer Gag verstanden werden, sachlich betrachtet ist er allerdings  nicht sinnvoll. In den modernen Gesellschaften der Gegenwart bestehen in jedem Staat Schulsysteme, welche das Verhältnis der verschiedenen Schularten und Schultypen regeln.Als Grundlage des Vergleichs der Schulsyysteme hat die UNESCO ein Schema entwickelt: „International Standard  Classification  of Education“. Die Schulsysteme gliedern sich in eine Primarstufe (Level 1, Grundschule), in eine Sekundarstufe I (Level 2, Schulen bis zum Ende der Schulpflicht), in eine Sekundarstufe II (Level 3,  Schulen zur Berufs- und Studienvorbereitung) sowie in eine Postsekundäre Stufe Level 4,  Schulen  zur Berufsbildung mit Diplomabschluss). Die Tertiärstufe (Level 5) bilden die Hochschulen und Universitäten, welche akademische Abschlüsse vermitteln.

In vielen Staaten sind jedem Level eigene Schularten zugeordnet. In den skandinavischen Staaten sind in der Grundschule jedoch die Primarstufe und die Sekundarstufe I zusammengefasst. In der österreichischen Schulorganisation werden nur Primarschulen (Schulstufen 1 – 4)  und Sekundarschulen  (Schulstufen 5 – 13) unterschieden (Schulorganisationsgesetz/SchOG  § 3). Eine Gliederung in Sekundarstufe I und Sekundarstufe II wird von der ÖVP abgelehnt, da dies als Bedrohung der Langform der allgemeinbildenden höherern Schulen (Gymnasienb, Realgymnasein) betrachtet wird. Im neuen Lehrerdienstrecht werden jedoch die beiden Stufen unterschieden. Fiktiv könnte man der Sekundarstufe I die Hauptschule/Neue Mittelschule, die Unterstufe der AHS und die Polytechnische Schule zuordnen.  Zur Sekundarstufe II könnte man diie Oberstufe der AHS, die berufsbildenden mittleren Schulen und die Berufsschule zählen. In den berufsbildenden höheren Schulen sind die Ebenen 3 und 4 zusammemgefasst. Sie schließen daher mit einer Reife- und Diplomprüfung ab.  

C. Seidl kritisiert mit Recht die Leistung der Volksschule, in der bereits die Problemschüler entstehen, welche in den PISA-Tests bei den Sechzehnjährigen (Ende der Schulpflicht in den meisten Staaten) als leistungsschwach im Lesen und der Mathematik ausgewiesen werden. Dies aber dem Gesamtschulcharakter der Volksschule zuzuschreiben ist falsch. Vielmehr liedet die Grundschule unter dem ihr zugwiesenen Selektionsprozess infolge der Schultypendifferenzierung der Sekundarstufe I (Schulen der Zehn- bis Vierzehnjährigen). So lange durch das Zeugnis der vierten Schulstufe der Volksschule entschieden wird, wer den Übertritt in die AHS schafft, werden die Lehrer die besondere Förderung der tatsächlich oder vermeintlich Befähigten als vordringliche Aufgabe betrachten. Deren Eltern erzeugen auch den entsprechenden Druck auf die Lehrer.  Im Klassenlehrersystem der Grundschule kommt es damit notwendiger Weise zur Vernachlässigung der Unterstützeung der besonders Förderungsbedürftigen.

Es gibt daher gute Gründe für die Einrichtung einer Gesamtschule im Bereich der Sekundarstufe I, welche den Auswahlprozess für die verschiedenen Bildungswege der Oberstufe (Lehre mit Berufsschule, berufsbildende Schulen, AHS-Oberstufe zur Studienvorbereitung) pädagogisch sinnvoll organisieren kann. Weitere gute Gründe für das „gebetsmühlenartige“ Eintreten der „linken Bildungswissenschafter und linken Bildumgspolitiker ... für die gemeinsame Schule der zehn bis 14 Jahre alten Kinder“  liegen im demokratiepolitisch wichtigen gemeinsamen Aufwachsen der Kinder aus den verschiedenen Gesellschaftsscbichten bis zum Ende der Schulpflicht und in der Verbesserung der Bildungschancen durch ein eimheitliches Schulangebot in allen Regionen.  Hier scheinen Einsichtsdefizite bei C. Seidl vorzuliegen.

„Konservative Experten und konservative Politiker“, welche „exakt das Gegenteil behaupten“, haben offensichtlich kein Interesse an der Förderung der Kinder von Eltern, welchen auf Grund ihres eigenen Bildumgsdefizits das Interesse an der Bildung ihrer Kinder fehlt. Sie wollen daran festhalten, dass Bildung quasi vererbt wird, wie zahlreiche Studien zum österreichischen Bildungssystem aufweisen.

Dringlich ist daher eine Reform des Bildungssystems, nicht seine Abschaffung. Diese Reform muss dazu führen, dass „Volksschüler die einfachsten Bildungsziele“ nicht mehr „verfehlen“. Dies wird am besten gelingen, wenn man die Entscheidung über die Bildumgslaufbahnen beim 10. Lebensjahr (Ende der Grundschule) abschafft und die Volksschule freisetzt, ihre im SchOG genannten Ziele zu erreichen: nämlich „allem Schülern eine gemeinsame Grundbildung zu vermitteln“. Dazu braucht es aber in erster Linie eine gemeinsame Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen !