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Bruchlandung der Zentralmatura – 1. Teil

von Helmut Seel
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Nun liegen die Ergebnisse der Zentralmatura 2o15 vor. Einiges vermochte  zu überraschen. Ein Befund kann nicht überraschen, nämlich dass in den Oberstufengymnasien nicht dieselben Ergebnisse wie in der  AHS-Langform erreicht                                         werden konnten. Zu unterschiedlich sind in den beiden Schultypen die verfügbaren maturabezogenen Lernzeiten. Es zeigt sich: Ein Prüfungssystem, dessen Aufgaben aus empirischen Befunden zu erreichbaren Leistungen in der AHS-Langform   entwickelt worden ist,  kann nur zum Leistungsvergleich von Schulen mit ähnlichen Lernbedingungen eingesetzt werden, nämlich in AHS-Langformen. Die festgestellten Leistungsunterschiede zwischen des AHS-Langform und den Oberstufenrealgymnasien sind hingegen systembedingt und sollten von der Schulverwaltung nicht klein- oder fortgeredet werden. Werden am Ende des laufenden Schuljahrs in den Berufsbildenden Höheren Schulen die für die Langform der AHS  entwickelten Prüfungssysteme eingesetzt, sind weitere Probleme zu erwarten. 

Die Matura bestätigt den Erwerb einer  höheren Allgemeinbildung und der Hochschulreife (allgemeine Studienberechtigung). Sie ist in Österreich auf drei Wegen zu erreichen: Langform der AHS mit acht Schulstufen -                                          Oberstufenrealgymnasium mit vier Schulstufen -  BHS mit fünf Schuljahren,  wobei die Berufsbildung in den postsekundären Bereich reicht.

Wollte man in der Zentralmatura das Leistungsminimum fixieren, das Maturanten aller Schultypen in der Muttersprache, in der grundständigen Fremdsprache  und in der Mathematik erbringen müssen, hätte man einen anderen Ansatz wählen müssen. Da in der  BHS die geringsten Unterrichtszeiten in den genannten Fachbereichen verfügbar sind, hätte die Entwicklung der Prüfsysteme  bei den empirisch feststellbaren Leistungen in den BHS ansetzen müssen.  Die verschiedenen Institutionen weisen unterschiedliche Traditionen auf und bringen spezifische  bildungspolitische Interessen zum Ausdruck.

Die Langform der AHS (Gymnasium, Realgymnasium) geht auf den Organisationsentwurf 1849 zurück, der acht Klassen vorsah, gegliedert in eine vierklassige  Unterstufe  (Ziel höhere Allgemeinbildung) und in eine vierklassige Oberstufe (Ziel  Studienvorbereitung) für die Schultypen Gymnasium und Realschule. Auch die Grundstruktur des heutigen  Fächerkanons geht auf dieses Gesetz zurück. Das  Mittelschulgesetz 1927 betonte nach dem Vorbild des deutschen neuhumanistischen  Gymnasiums den Langformcharakter (acht Klassen als Einheit) mit vier Schultypen (Gymnasium, Realgymnasium, Realschule und Frauenoberschule). Das Schulorganisationsgesetz 1962 machte aus den Mittelschulen allgemeinbildende höhere Schulen (AHS)mit den Typen  Gymnasium (zweite Fremdsprache ab der dritten, dritte Fremdsprache ab der fünften Klasse), Realgymnasium (zweite Fremdsprache ab der fünften Klasse, GZ und DG) und  Wirtschaftskundliches  RG für Mädchen. Nach der AHS-Reform 1988 wurden die Schultypen weitgehend in einem System von Pflicht-,  Wahlpflicht- und Wahlfächer aufgelöst. Die AHS-Langform ist eine Wahlschule, die Eltern müssen ihre Kinder zum Besuch anmelden. Sie ist damit das perfekte Instrument der Bildungsvererbung, welche am österreichischen Schulsystem kritisch festgestellt werden kann.

Die Mehrzahl der Kinder besucht jedoch nach der Grundschule weiterhin die Pflichtschule. Seit 1927 war dies die Hauptschule. Um den unterschiedlichen Interessen und Befähigungen der Pflichtschüler Rechnung tragen zu können, wurde sie als Gesamtschule mit Leistungsdifferenzierung in zwei Klassenzügen geführt. In der Hauptschulreform 1983  wurden im Interesse der Integration und der Differenzierung ergänzend zu den leistungsheterogenen Stammklassen fachspezifisch zusammengesetzte Leistungsgruppen in Deutsch, in der Fremdsprache und in Mathematik eingerichtet. Die Einstufung in den höchsten Leistungsgruppen führte zur Übertrittsberechtigung in die Oberstufe höherer Schulen. Dieser zweite schulorganisatorische „Verteilerkreis“ des österreichischen Schulsystems ist ein wichtiger Faktor der Bildungschancengerechtigkeit. In der ohne Schulversuche eingeführten Neuen Mittelschule ist es für die Lehr schwieriger geworden, die leistungsstärkeren Schüler rechtzeitig zu identifizieren und besonders zu fördern.

 Die Entwicklung eines Oberstufenrealgymnasiums beginnt mit der Einrichtung der fünfklassigen Lehrerbildungsanstalt 1945, die mit der Reife für das Lehramt an Volksschulen und mit  der allgemeinen  Studienberechtigung abgeschlossen wurde. Immer mehr Absolventen wechselten an die Universität, nicht in  den Lehrerberuf. Mit der Einführung der Lehrerbildung an den Pädagogischen Akademien 1962  sollten die Musisch-pädagogischen Realgymnasien, in welche die alten Lehrerbildungsanstalten umgewandelt wurden, eine Zubringerfunktion erfüllen.  Zur Verbesserung der Bildungschancen im ländlichen Raum wurden MPRGs auch neu eingerichtet und erhielten weitere inhaltliche Schwerpunkte. Man wollte damit das AHS-Netz verdichten. Die neuen Oberstufenrealgymnasien konnten zu den vier Klassen auch eine Übergangsstufe führen. In der Übergangsstufe konnten die neuen Klassenverbände konstituiert und eine einheitliche Lehr- und Lernbasis für den maturabezogenen Unterricht geschaffen werden.

 Dass auch die Reifeprüfung an Berufsbildenden höheren Schulen eine allgemeine Studienberechtigung begründet, ist darauf zurückzuführen, dass angenommen werden kann, dass höhere Bildung im Sinne von entwickelter Urteils-. Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit auch in der Auseinandersetzung mit den Inhalten beruflicher Bildung erworben werden kann. In den BHS substituieren Leistungen in den berufsbildenden Fächern  einen   geringeren Anteil der Fächer des traditionellen Fächerkanons der Allgemeinbildung.

 Im Hinblick auf die Entwicklung einer umfassenden Zentralmatura wurde das Pferd von der falschen Seite aufgezäumt. Statt mit Prüfsystemen für die AHS-Langform zu beginnen, wäre ein Bildungsminimum in der Muttersprache, der grundständigen Fremdsprache und in der Mathematik zu definieren, ausgehend von den Reifeprüfungsergebnissen der BHS. Dass ein solches Leistungsminimum in den ORGs besser erfüllt werden könnte und der AHS-Langform-Maturant eben keinerlei Schwierigkeiten mit diesen  Aufgaben haben würden, liegt auf der Hand. Die Blickrichtung ist umzukehren: Systembedingt sind in der verschiedenen maturaführenden Schulen jeweils ein Mehr an Wissen und  Können in den traditionellen Fächer der Allgemeinbildung gegeben.  Es geht nicht um ein Weniger, das in den verschiedene Schultypen erreicht werden kann. Diese Betrachtungsweise führt dazu, dass verschiedene Schultypen in ein schiefes Licht geraten und wichtige bildungspolitische Aspekte aus den Augen geraten könnten. Da derzeit jedoch nicht so vorgegangen wird,  ist am Ende des laufenden Schuljahrs mit dem 2 .Teil  der Bruchlandung der Zentralmatura zu rechnen