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Der neue Grundsatzerlass „Politische Bildung“ – Ein Fortschritt?

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Der 1978 veröffentlichte „Grundsatzerlass Politische Bildung“ stand und steht für einen Bildungsauftrag, der gleichermaßen die persönliche Entfaltung des Einzelnen als auch die Weiterentwicklung einer demokratischen Gesellschaft in den Mittelpunkt der schulischen Bemühungen rückt. Diese zentrale Aussage ist  zwar noch immer als ein Grundsatz des neuen Erlasses zur Politischen Bildung aus dem Jahr 2015 vorhanden geblieben, allerdings enthält die Neufassung auch eine Reihe von Merkwürdigkeiten, Fragwürdigkeiten und Unklarheiten, die im Folgenden artikuliert werden sollen.

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Etliche Teile des „neuen“ Erlasses bestehen aus Umstellungen von Textteilen und Begriffen des alten Erlasses, ohne dass geklärt wird, was damit beabsichtigt ist bzw. ob damit überhaupt etwas beabsichtigt wurde.

Im alten Erlass 1978 hieß es noch:

„… in einem demokratischen Gemeinwesen wird unabänderliches Merkmal sein, dass Autorität und Herrschaft aus der Quelle der freien Bestellung, der freien Kontrolle und der freien Abrufbarkeit durch die Regierten bzw. durch die von diesen eingesetzten Organe geschöpft werden.“

 Im neuen Erlass 2015 wird nunmehr formuliert:

  „Die freie Bestellung, Kontrolle und Abrufbarkeit der Regierenden durch die Regierten legitimiert Herrschaft und Autorität in einer Demokratie.“

 Sind diese Textveränderungen als Zufallsprodukt zu betrachten, absichtsvoll unklar oder gezielt geschmeidig formuliert, ohne Ecken und Kanten? Das ist hier die Frage!

 Klarer erkennbar wird die „erlässliche“ Absicht allerdings bei folgender Passage. 1978  hieß es noch:

  „Politische Bildung ist Weckung von Bereitschaft zu verantwortungsbewusstem Handeln: Politische Bildung will die Bereitschaft des Schülers wecken und fördern, politische Vorgänge aktiv mitzugestalten. Der Schüler soll bereit sein, Entscheidungen, die er nach eigenständigen Wertauffassungen getroffen hat - gegebenenfalls auch unter Belastung und unter Hintansetzung persönlicher Interessen - in politisch verantwortungsbewusstes Handeln umzusetzen.

 Im aktuellen Erlass  lautet es hingegen nunmehr deutlich harmloser, aber dafür umständlicher:

 „Ziel ist es, dass Schülerinnen und Schüler damit über ein Repertoire an Herangehensweisen und an zentralen politischen Konzepten (u.a. Demokratie, Recht, Gender) verfügen, die in verschiedenen Situationen zur Anwendung kommen können. Auf Basis dieser Grundlagen soll das Interesse am politischen Geschehen und auch die Bereitschaft, sich aktiv daran zu beteiligen, durch konkrete Erfahrungen gefördert werden. Kompetenzorientierte Politische Bildung befähigt damit dazu, sich eine eigene Meinung bilden und artikulieren zu können – aber auch zur Selbstreflexion sowie zu Respekt und Anerkennung kontroverser Ansichten.“

 Wer erklärt den Lesern und Leserinnen des Erlasses, warum die Passage über „die eigenständigen Wertauffassungen und das politisch verantwortungsbewusste Handeln“ nun im Jahre 2015 obsolet geworden ist?

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 Die Politische Bildung soll auch 2015 dazu befähigen, „gesellschaftliche Strukturen, Machtverhältnisse und mögliche Weiterentwicklungspotentiale zu erkennen und die dahinter stehenden Interessen und Wertvorstellungen zu prüfen“.

 Der zugehörige Klammerausdruck aus dem Jahr 1978  „(Interessen, Normen, Wertvorstellungen; Herrschaft, Macht, Machtverteilung; politische Institutionen) wird den Lehrerinnen und Lehrern aber nunmehr vorenthalten!

 Im neuen Erlass 2015 soll Politische Bildung  

 „das Erkennen, Verstehen und Bewerten verschiedener politischer Konzepte und Alternativen ermöglichen und zu einer kritischen und reflektierten Auseinandersetzung mit eigenen Wertvorstellungen und den Überzeugungen von politisch Andersdenkenden führen.“

 Die im Erlass 1978 genannten Ziele

 „Einsicht in die einzelnen Faktoren gesellschaftspolitischer Entscheidungsfindung (die Träger von gesellschaftlicher, insbesondere von politischer Verantwortung, ihre Ziel- und Wertvorstellungen, ihre Interessen; die Entscheidungs- und Handlungsabläufe; die Machtverteilung)“

 erscheinen hingegen den für die Neufassung des Erlasses Verantwortlichen 2015 offenbar verzichtbar.

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 Neben unerklärten (und unerklärlichen?) Textspielen verfolgt der neue Erlass auch klar deklarierte Ziele:

 „Seit der Erstverlautbarung des Grundsatzerlasses haben sich Schule, Gesellschaft und Politik weiterentwickelt.

Auch die politische Kommunikation, die mediale Berichterstattung und die Wege der Informationsbeschaffung haben einen starken Wandel durchlaufen. Nicht zuletzt wurde 2007 das aktive Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt. Diesen Veränderungen muss durch neue Vermittlungsmethoden und aktuelle politische Bezüge Rechnung getragen werden.“

Misst man den Erlass an diesen, seinen eigenen Absichten, dann ergibt sich ein eher durchwachsenes Bild: Was die inhaltlichen Erweiterungen betrifft, finden sich im Erlass durchaus verdienstvoll die Themen „einer gerechten Ressourcenverteilung und eines  verantwortungsvollen und ressourcenschonenden Umgangs mit Natur und Umwelt“ und es ist ausdrücklich von der „Überwindung von Vorurteilen, Stereotypen, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sowie von Sexismus und Homophobie“ die Rede. Politische Bildung soll auch „ein Verständnis für existentielle sowie globale Zusammenhänge und Probleme der Menschheit“ vermitteln und es werden die „Ziele einer gerechte Friedensordnung und einer fairen Verteilung von Ressourcen“ ausdrücklich angesprochen.

Dennoch wird gerade hier die Tendenz zum Vermeiden und Ausklammern  der wirklich brisanten Gegenwartsthemen deutlich!

Es fehlen z.B. Hinweise auf die sozialstaatliche und ökologische  Zähmung einer krisenanfälligen Wirtschaftsordnung, die Disparität der Lebensverhältnisse im Norden und im Süden, die Zunahme von ethnischen, religiösen und nationalen Kriegen, auf die unbewältigten neuen Formen von Kontinente überschreitenden Migrationsströmen, auf die Minimierung der Einflussmöglichkeiten nationaler Politik bedingt durch  internationale ökonomische Verflechtungen, die Krise der repräsentativen Demokratie in vielen Staaten, die zunehmend mediale Inszenierung demokratischer Entscheidungsprozesse als Teil einer fragwürdigen Eventkultur.

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Was die didaktischen Intentionen betrifft, so stellt der Erlass 2015 die Kompetenzorientierung (Sach-, Methoden-, Urteils- und Handlungskompetenz) in den Mittelpunkt der Umsetzung von Politischer Bildung im Unterricht.

 „Ziel ist es, dass Schülerinnen und Schüler damit über ein Repertoire an Herangehensweisen und an zentralen politischen Konzepten (u.a. Demokratie, Recht, Gender) verfügen, die in verschiedenen Situationen zur Anwendung kommen können.“

Nun findet zu dieser Kompetenzorientierung seit einigen Jahren eine ebenso engagierte wie kontroversielle Debatte auf schulwissenschaftlicher und schulpraktischer Ebene statt. Letztendlich geht es dabei darum, ob nicht bei einer  Konzentration auf das Einüben einer Vielzahl von  abprüfbaren Kompetenzen die Grundanliegen des Bildungsprozesses aus dem Auge verloren gehen könnten.

Insofern erscheint es einigermaßen merkwürdig, dass sich der Erlass dieser Frage ziemlich unkritisch (jedenfalls ohne Reflexion dieser Problematik) nähert und dort, wo der Teufel bekanntlich im Detail stecken würde, nämlich bei der Umsetzung in Kompetenz-Hierarchien und Kompetenzlisten, einfach kneift und auf eine extern zugängliche Unterlage („Krammer et al“) verweist.

 Eine solche Vorgangsweise ist für einen Grundsatzerlass doch mehr als merkwürdig!

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 Mindestens ebenso bedenklich ist auch jener Abschnitt, der - gewissermaßen mit erhobenem Zeigefinger - auf ein sogenanntes Kontroversitätsgebot („Abbilden von Kontroversen aus Politik und Gesellschaft im Unterricht auch das Zulassen und Fördern von Gegenpositionen und deren Begründung“) und auf ein Überwältigungsverbot („Keinesfalls dürfen Lehrkräfte Politische Bildung zum Anlass einer Werbung für ihre persönlichen politischen Auffassungen oder Einstellungen machen, wenngleich es zulässig erscheint, als Lehrperson situationsbedingt ein eigenes politisches Urteil abzugeben.“) verweist.

 Die Grundgedanken dieser „Gebote“ bzw. „Verbote“ sollen hier nicht zur Diskussion gestellt werden, aber man muss sich fragen, ob angesichts des ohnehin rutschigen Parketts, auf dem sich Lehrerinnen und Lehrer im Rahmen der Politischen Bildung bewegen, nicht in anderer Form und an anderer Stelle diese Gedanken artikuliert werden sollten. Wann und wo ein Verstoß gegen diese Gebote festzustellen ist, das wird sich wohl nicht leicht eingrenzen lassen.

 In dieser Form sind die Gebote / Verbote eher eine Handhabe für vielleicht etwas voreingenommene Vorgesetzte (Gibt es die?), als Halt und Sicherung für die unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer.

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Abschließend noch eine Überlegung: Es mag ja seinen Vorteil haben, wenn Erlässe überhaupt noch zu Diskussionen anregen und nicht das Schicksal mancher Lehrplanreformen teilen, die rasch der Vergessenheit im Verordnungsblatt anheimfallen. Dem Grundsatzerlass „Politische Bildung“ aus dem Jahr 2015 muss man allerdings auf Grund seiner Mischung aus unerklärten Textumstellungen, Textbearbeitungen, halbherzigen Erweiterungen und manchen Tendenzen zum Rückbau bzw. zur Verharmlosung eine sehr intensive und nachhaltige Diskussion  und auch Veränderung wünschen!

K.S.