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Streitfall Neue Mittelschule

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Im Stufenaufbau des Schulsystems kommt der Sekundarstufe I (UNESCO International Standard Classification of Education Level 2) ein spezifisches Aufgabenfeld zu. Neben der Konstituierung der Unterrichtsfächer als Bildungsbereiche auf dem Hintergrund der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, ihrer Methodik und Systematik, sind es vor allem die Aufgaben der Integration und der Selektion. Die Integrationsfunktion zielt auf das Zusammenleben in einem demokratisch verfassten Staat als gleichberechtigte und gleichverantwortliche Bürger. Die Heranwachsenden aus den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sollen dies im gemeinsamen Leben und Lernen  erwerben. In der Mittelstufe ist auch die Identifikation und besondere Förderung der Begabungen und Interessen vorzunehmen. Die Jugendlichen sind im Rahmen eines Selektionsprozesses auf die unterschiedlichen Berufswege im Sekundarbereich II des Bildungssystems vorzubereiten: berufliche Lehre, berufsbildende mittlere und höhere Schulen, allgemeinbildende Studienvorbereitung.

 Die Mittelstufe des österreichische Schulsystems ist in einer langen Tradition durch zwei Schultypen besetzt: einer Wahlschule (allgemeinbildende höhere  Schule/AHS, bis 1962 Mittelschule) und einer Pflichtschule mit Gesamtschulcharakter (Hauptschule mit Leistungsdifferenzierung bis 1983 durch Klassenzüge, bis 2012 durch fachspezifische    Leistungsgruppen in den Sprachen und in Mathematik. Die erste Leistungsgruppe hat im Leistungsniveau  der AHS entsprochen, was durch Evaluation der Schulversuche von 1971 bis 1983 festgestellt werden konnte. Der Gesamtschulcharakter der Pflichtschule (Hauptschule) ist, abhängig von den regionalen Übertrittsquoten in die AHS, unterschiedlich ausgeprägt. In der österreichischen Schulorganisation hat diese Ergänzung der Wahlschule durch eine der breiten Streuung der Begabungen entsprechenden Pflichtschule  hinsichtlich der Bildungschancengerechtigkeit große Bedeutung.  Derzeit tritt etwa ein Drittel der Volksschüler in die AHS-Unterstufe ein. Die Schulwahl hängt stark  mit der sozialen Herkunft zusammen. Der sozio-ökonomische Status des Elternhauses hat für den Eintritt in die AHS größere Bedeutung als die schulische Leistung der Kinder. Dieser Sachverhalt wurde im Nationalen Bildungsbericht 2015 ausführlich dokumentiert.

Unterrichtsministerin Schmid hat 2008 Schulversuche mit einer „Neuen Mittelschule“   als gemeinsamer Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen eingeleitet. Mit einigen Vorgaben, vor allem der Ersatz der Leistungsgruppen durch Maßnahmen der inneren Differenzierung, wurde den Bundesländern die Modellentwicklung überlassen. Eine vergleichende Evaluation war vorgesehen. 2012 schloss Unterrichtsministein Schmid ein Abkommen mit der ÖVP: Umwandlung aller Hauptschulen in Neue Mittelschulen, dafür Bestandsgarantie für die AHS-Langform. Das Ministerium legte ohne Diskussion der  Mittelschulmodelle der Bundesländer die Organisationsform fest (Novellierung des Schulorganisationsgesetzes 2012). Dies führte u. a. zum Konflikt zwischen dem Unterrichtsministerium und dem Stadtschulrat für Wien  (Verteidigung des „Wiener Modells“). Der Schulversuch und die damit verbundene Evaluation wurden abgebrochen.

Zum Zweck einer wirksameren  inneren Differenzierung durch Team Teaching wurden den  Mittelschulen  sechs zusätzliche Jahreswochenstunden zugestanden. Damit sollten Lehrer der höheren Schulen in die Mittelschulen eingebunden werden, um deren Gesamtschulcharakter mit einer größeren Anzahl begabter Kinder  zu betonen, die das Leistungsniveau der AHS in der Form der „vertieften Allgemeinbildung“ erreichen und damit die Übertrittsberechtigung in  die höheren Schulen der Sekundarstufe II erwerben. Der Rechnungshof kritisierte, dass dieser Effekt des Team Teaching bisher nicht nachgewiesen werden konnte.

 Stellt man die Organisationsformen der Hauptschule und der Neuen Mittelschule gegenüber, so zeigt sich in der Hauptschule eine stärkere Betonung der Selektionsfunktion. Die Leistungsdifferenzierung durch die Leistungsgruppen in den Sprachen und in Mathematik setzt zweifellos zu früh ein und führt zu einem starren System ohne Durchlässigkeit. Die Integrationsfunktion  kann durch den verbleibenden Unterricht in der leistungs- und sozialheterogenen Stammklasse nicht zufriedenstellend erfüllt werden. Die Neue Mittelschule hingegen trifft der Vorwurf einer mangelhaften Selektionsleistung. Die Leistungsmotivation der Schüler wird zu wenig herausgefordert. Die Prozesse der Zuerkennung der Niveaus der grundlegenden  bzw. der vertieften Allgemeinbildung verlaufen in den heterogenen Stammklassen auch bei einem Zweilehrer-Team zu unsystematisch und intransparent.  Rückmeldungen aus den berufsbildenden höheren Schulen weisen in diese Richtung.

Eine Verbindung der beiden Konzepte könnte eine Lösung bieten. Die Schulstufen 5 und 6 (Klassen 1 und 2 einer Mittelstufengesamtschule) sollten nach dem Plan der Neuen Mittelschule eingerichtet werden. Im Zweilehrer-System könnte in den leistungsheterogenen Stammklassen die Leistungsdifferenzierung vorbereitet werden. In den 3. und 4. Klassen der Mittelstufengesamtschule (Schulstufen 7 und 8) sollten mit Hilfe des Zweitlehrereinsatzes in den Sprachen und in der Mathematik Leistungsgruppen für mindestens zwei Anforderungsniveaus gebildet werden. An das Modell der „Wiener Mittelschule“ ist zu erinnern.

Vielleicht wäre eine solche „Neueste Mittelschule“ in der politischen Situation konsensfähig. In Zukunft kann auch der Einsatz von Lehrern der höheren Schulen (Universitätsstudium) keine Schwierigkeiten mehr bereiten. Ab dem nächsten Studienjahr werden Sekundarlehrer einheitlich für den gesamten Sekundarbereich des Schulsystems (Schulstufen 5 bis 12/13) ausgebildet. Auch dienstrechtlich wurde bereits vorgesorgt. Alle Lehrer, die im Bereich der Sekundarstufe I unterrichten, werden gleich besoldet. Der Unterricht auf der Sekundarstufe II wird durch Zulagen besonders honoriert.

H.S.