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Über den Niedergang der Pflichtschule der Sekundarstufe I

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„Secondary education for all“ war das Schlagwort für die Reform des englischen Schulsystems nach dem Ersten Weltkrieg und brachte die „Modern School“ als Gesamtschule für die Elf- bis Fünfzehnjährigen. Sekundarbildung bedeutet: Erweiterung des Weltbilds über den Nahbereich des Lebens hinaus, vor allem durch Fremdsprachen und Vertrautmachen mit einer wissenschaftlichen Weltsicht, vermittelt durch fachlich und fachdidaktisch geschulte Fachlehrer sowie den Erwerb von Verständnis für die demokratische Verfasstheit der  Gesellschaft durch politische Bildung.

Aufbauend auf die dreiklassige Bürgerschule des Reichsvolksschulgesetzes und die Gliederung der Mittelschulen in eine Unterstufe mit vier Klassen (Allgemeinbildung) und vier Klassen Oberstufe (Studienvorbereitung, Abschluss Matura) konnten auch die Bildungsreformer der Sozialdemokraten die „Sekundarbildung für alle“ bereits 1918  nach der Gründung der Ersten Republik in Angriff nehmen. Durch diese Gliederung unterschied sich das österreichische Gymnasium vom deutschen, welches ungegliedert als höhere Schule mit neun Klassen zum Abitur führte. Nach den „Leitsätzen für den allgemeinen Aufbau der Schule“ sollte eine Allgemeine Mittelschule (Gesamtschule) mit vier Schulstufen auf die vierklassige Volksschule aufbauen und zu den verschiedenen Oberschulen führen.

Nach den Schulversuchen mit der Allgemeinen Mittelschule in Wien (1922 – 1926) konnte 1927 nur eine schulpolitische Kompromisslösung durchgesetzt werden. Neben der Unterstufe der traditionellen Mittelschulen (Gymnasium Realgymnasium, Realschule,  Frauenoberschule), für deren Besuch Schulgeld zu bezahlen war, wurde die Hauptschule nach dem Konzept der Allgemeinen Mittelschule eingerichtet.  Sie übernahm rund 90 % der entsprechenden Schülerpopulation und war in zwei Klassenzüge gegliedert. Vom Ersten Klassenzug konnte man mit „gutem Gesamterfolg“ ohne Prüfung in die Mittelschule übertreten. Die Lehrpläne der Hauptschule und der Mittelschule wurden akkordiert, im Ersten Klassenzug der Hauptschule wurde der Fremdsprachenunterricht eingeführt. Die Volksschuloberstufe  (Schulstufen 5 bis 8) sollte nur in  kleinen Orten der ländlichen Regionen bestehen bleiben.

Im Autoritären Ständestaat (1934 – 1938) wurde von den konservativen politischen Kräften der Christlichsozialen Partei diese an der Gesamtschule orientierte Hauptschule zerstört. Der Zweite Klassenzug der Hauptschule  wurde abgeschafft, An seine Stelle trat generell wieder die Oberstufe der Volksschule (Schulstufen 5 – 8). Die Lehrpläne der Hauptschule und der Mittelschulen wurden unterschiedlich gestaltet, sodass ein prüfungsfreier Übertritt nicht mehr möglich war. Das Schulsystem sollte der gesellschaftlichen Ordnung entsprechen: die Mittelschule für die gebildete höhere Schicht zur Vorbereitung auf das Universitätsstudium, die Hauptschule als Schule für die Bürger des Mittelstands, die Volksschuloberstufe für das niedere Volk der Arbeiter und Bauern.

1945 wurde in der Zweiten Republik das Schulsystem der Ersten Republik wiederhergestellt. Der Besuch der Mittelschulen war weiterhin schulgeldpflichtig. Die Hauptschule führte wieder zwei Klassenzüge zur Leistungsdifferenzierung. In manchen der westlichen Bundesländer erfolgte die Einführung des Zweiten Klassenzugs nur zögerlich. Sie wurde eine Zeit lang durch die „Landschulreform“ gebremst, welche auf den Ausbau der Volksschuloberstufe setzte. Im Schulorganisationsgesetz des Schulgesetzwerks 1962 wurde die zweizügige Hauptschule endgültig eingerichtet. Die Mittelschule mutierte zu Höheren Schule und war nun schulgeldfrei. Die Hauptschule wurde als Zubringerschule zu den neu formierten berufsbildenden höheren Schulen und zu den neuen Oberstufenrealgymnasien aufgewertet

Die sozialdemokratische Mehrheit im Parlament ab 1970 führte zu „Schulversuchen zur Schulreform“. Im Mittelstufenbereich wurde ein Gesamtschulmodell erprobt, das den beiden Aufgaben der Integration und der Selektion besser als das Klassezugssystem entsprechen sollte: Leistungsgruppen auf drei Leistungsebenen in Deutsch,  Englisch und Mathematik; leistungsheterogene Stammklassen  im den Realien und den musisch-technischen Fächern. Diese Schulversuche, die leider nur in Hauptschulen eingerichtet werden konnten, wurden wissenschaftlich evaluiert. In der oberen Leistungsebene konnten AHS-adäquate Leistungen erreicht werden. Die Einführung der Gesamtschule scheiterte am Widerstand der ÖVP, die Hauptschule wurde 1983 reformiert.

In der Folge geriet die Hauptschule im städtischen Bereich  immer stärker in den Sog der AHS-Unterstufe. Traten im österreichischen Durchschnitt etwa ein Drittel der Volksschüler in die AHS ein, so waren es im, städtischen Bereich 80 % und mehr. Gleichzeitig mussten die Hauptschulen zunehmend Zuwanderer- und Flüchtlingskinder aufnehmen. Der Versuch,  dieser Entwicklung durch die – überstürzte und den Schulversuch abbrechende - Einführung der Neuen Mittelschule entgegen zu treten, schlug fehl. Infolge der Abschaffung der Fachleistungsgruppen und der Einführung  einer intransparenten Leistungsdifferenzierung (Unterscheidung „Grundlegende bzw. Vertiefte Allgemeinbildung“) in den Sprachen und in der Mathematik in den heterogenen Klassen kann die Selektionsfunktion (Vorbereitung auf den Übertritt in höhere Schulen) nicht  zufriedenstellend wahrgenommen werden. Die Neue Mittelschule entwickelt sich damit zu einen Zweiten Klassenzug des Schulsystems und verliert den Gesamtschulcharakter. Sie kann  auch die Integrationsfunktion nicht leisten. Denn diese würde eine gesellschaftlich repräsentative Zusammensetzung der Klasse erfordern, Dasselbe gilt auch für die Inklusionsaufgabe.

Im städtischen Bereich schreitet die negative Entwicklung der Pflichtschulvariante der Sekundarschulen voran. Die vom neuen Bildungsminister Faßmann angekündigte Einführung von „Deutschklassen“ mit 20 Wochenstunden Deutschunterricht für Migrantenkinder mit Defiziten in der Unterrichtssprache betrifft sicherlich den Großteil der Schüler der Neuen Mittelschule  und reduziert diese auf einen Restbestand einheimischer Kinder mit ausgeprägten Lern- und/ oder Verhaltensstörungen. Der Deutschunterricht für die Migrantenkinder kann nur auf Kosten der „Bildungsfächer“, den Realien und den künstlerischen Fächer, gehen. Dies entspricht einer Oberstufe der Volksschule, die nun neben einer Oberstufe einer Sonderschule steht. Es bleibt eine Hoffnung: Da der Sprachunterricht Inhalte braucht, könnte bei einer entsprechenden Planung auch Kulturvermittlung geleistet werden. Die Reformpädagogen am Beginn der 20sten Jahrhunderts wussten es schon: „Aller Unterricht ist Sprachunterricht“. Nicht Separieren, sondern Integrieren, und zwar in eine gesellschaftlich repräsentative Gesamtschule, wäre die bessere Lösung.

H.S.