« vorheriger Artikel | Home | nächster Artikel »

Die Schulreife des Ministers Faßmann

Artikel drucken

Das sogenannte Pädagogik-Paket 2018 der damaligen türkis-blauen Bundesregierung ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Schulgesetze. Die öffentliche Diskussion konzentrierte sich auf die geänderten Bestimmung zur Leistungsbeurteilung (Ziffernnoten und „Sitzenbleiben“) sowie die fragwürdige Einführung der  Deutschklassen. Aber auch bei den Regelungen zum Schuleintritt in die Volksschule wurde herumgedoktert, und zwar so gründlich, dass im Schulpflichtgesetz  ein hochkompliziertes und schwer überblickbares  System aus Paragraphen, Ziffern,  Absätzen, Unter-Absätzen und  Querverweisen entstanden ist. Insgesamt betroffen  sind 3 Bundesgesetze (neben dem Schulpflichtgesetz noch das Schulorganisationsgesetz und das Schulunterrichtsgesetz), 9 Landesaus-führungsgesetze  und auch noch die  vom Minister kundgemachte Verordnung „über die näheren Festlegungen betreffend das Vorliegen (!) der Schulreife“. Dieser wilde  Paragraphen-Dschungel steht im Kontrast zu der maßvollen und klugen   Definition von Schulreife, wie sie ursprünglich in den Schulgesetzten 1962 formuliert wurde: „Schulreif ist ein Kind, wenn begründete Aussicht besteht, dass es dem Unterricht in der Volksschule zu folgen vermag, ohne körperlich oder geistig überfordert zu werden“. Es ging also ursprünglich um eine Prognose, deren Stimmigkeit und Brauchbarkeit sich an den jeweiligen unterrichtlichen Erfordernissen im Verlauf der ersten Monate in der Schule erweisen musste.

Ganz anders ist nun die Situation aufgrund des Schulrechtspaketes aus 2018. Man fragt sich vor allem, was die Ursache für diesen enormen Wort- und Regelungsaufwand ist, der da entstanden ist?

Die Antwort liegt  einigermaßen  klar auf dem Tisch! Im Wesentlichen ging es der damaligen Koalition darum, die Einschulung der Sechsjährigen zu einem Vorgang der Überprüfung, Beurteilung und Diagnose zu machen. Ziel ist die punktuelle Feststellung (die Einschreibungen erfolgen normalerweise im April, also ein halbes Jahr vor dem Schulbeginn im September!) der  erreichten oder nicht erreichten Schulreife, die eine genaue Zuweisung der Schuleintretenden in  Deutschklassen, in Vorschulklassen oder die 1. Schulstufe der Volksschule ermöglichen soll. Zu diesem Zweck wurde die „Definition“ der Schulreife verändert. „Schulreif ist ein Kind, wenn

  • es die Unterrichtssprache so weit beherrscht, dass es dem Unterricht in der ersten Schulstufe ohne besondere Sprachförderung zu folgen vermag, und
  • angenommen werden kann, dass es dem Unterricht in der ersten Schulstufe zu folgen vermag, ohne körperliche oder geistig überfordert zu werden.“

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass mit diesen Bestimmungen die Beherrschung der Unterrichtsprache  zu einem Schulreifekriterium gemacht wird. Was vielleicht bei oberflächlicher Betrachtung plausibel erscheinen mag, wird bei näherem Hinsehen als außerordentlich problematisch erkennbar. Damit werden ganz unterschiedliche Phänomene wie beispielsweise zeitlich begrenzte Entwicklungsrückstände, zerebral begründete Entwicklungsstörungen oder ein unzureichender Erwerb einer Zweitsprache bei Kindern mit Migrationshintergrund sachlich unbegründet miteinander vermengt. Alle diese Fragen sind bei der Einschreibung durch die SchulleiterInnen kaum valide abklärbar und führen dann zu weiteren Gutachten und punktuellen Tests. Hier wird ein Rückfall in die Entwicklungspsychologie der 50er-Jahre provoziert, die damals meinte, bestimmte Reifestadien lassen sich gewissermaßen am Altersmonat und an Testergebnissen erkennen.

Daher wird auch das Prozedere bei der Einschreibung zusätzlich verschärft, indem es im obrigkeitsstaatlichen Tonfall heißt: „ … haben die Erziehungsberechtigen allfällige Unterlagen, Erhebungen und Förderergebnisse … insbesondere des Sprachstandes … vorzulegen."  Kommen die Erziehungsberechtigten dieser Verpflichtung trotz Aufforderung nicht nach … „hat sich der Schulleiter an die entsprechende Bildungseinrichtung zu wenden“.

Es gibt aber noch Steigerungen der Prüfungsprozedur bei den  5 ½ jährigen (!)  SchulanwärterInnen. Zur Feststellung der Kenntnisse der Unterrichtssprache sind standardisierte Testverfahren zur Verfügung zu stellen, die vom Schulleiter durchzuführen sind. Zusätzlich sollten sich die Schulleitungen an die Verordnung des Ministers „über die näheren Festlegungen betreffend das Vorliegen (!) der Schulreife“ halten, in der Kriterien für die kognitive Reife, die sprachliche Kompetenz und die körperliche und sozial-emotionale Reife benannte werden. Das, was sich ohnehin im Verlauf der ersten Schulmonate herausstellen würde, soll nun bereits zum Zeitpunkt der Einschreibung festgestellt werden.  Wer da auf Nummer sicher gehen will, der sorgt daher für externe Gutachten und zusätzliche Testverfahren! Der Schuleintritt von kaum Sechsjährigen wird damit zu einer  Check-in-Erfahrung ähnlich den Sicherheitskontrollen an einem Airport!

Während ursprünglich (vor Einführung der Vorschulstufe) die Zurückstellung vom Besuch der 1. Schulstufe, aber auch die vorzeitige Aufnahme von noch nicht Schulpflichtigen auch noch während des Schuljahres bis Kalenderjahresende möglich war, geht es nun darum, möglichst bei der Einschreibung „klare Entscheidungen“ zu treffen. Die Regelungen zu den Deutschklassen im Pädagogikpaket 2018 erzwingen förmlich aus organisatorischen Gründen eine  rasche Entscheidung bei SchülerInnen (wegen mangelnder Kenntnis der Unterrichtssprache „nach Maßgabe der Testergebnisse“!) möglichst zu Schulbeginn. Wenn dem Minister die rasche Konstituierung der Deutschklassen so wichtig ist, dann sollte er doch – auch und gerade aus wissenschaftlichen Gründen – die Sprachfeststellung von der Schulreife trennen.

Aber auch die Zuordnung der Schuleintretenden in eine Vorschulstufe oder 1. Schulstufe durch die Schulleitungen ist in vielen Fällen höchst fragwürdig. Helfen sollte den Schulleitern dabei ein Test.  Mit dem ersten Versuch ist der verantwortliche Minister Faßmann allerdings grandios gescheitert. Das Computerspiel „Poldi“ wurde eher zu einer Kabarettnummer, die beweist, dass die Testkonstrukteure keine Ahnung haben von der Lebens- und Lernsituation von Sechsjährigen.

Mit der erfolgten Zurückstellung des Tests  ist es aber nicht getan. Der Minister sollte vielmehr die Frage beantworten, wofür die große Eile gut sein soll, schon im Zuge der Schülereinschreibung zu klären, in welches Töpfchen die angehenden SchülerInnen eingeordnet werden. Warum kann man für diese Zuordnung den Schulen nicht einige Monate Zeit lassen, um dann auf der Grundlage der im Unterricht gesammelten Erfahrungen eine tragfähige Entscheidung treffen zu können?

Es gibt eine Antwort auf diese Frage! Man kann das, Herr Minister, weil es dafür auch eine gesetzliche Grundlage gibt! Die Novelle des Schulorganisationgesetzes  aus dem Jahr 1998 sieht ausdrücklich vor, dass die Grundschule mit einem getrennten oder einem gemeinsamen Angebot von Vorschulstufe sowie 1. und 2. Schulstufe geführt werden kann. „Gemeinsam“ bedeutet, dass in einem Klassenverband die SchülerInnen der Vorschulstufe sowie der 1. und 2. Schulstufe beisammen sind, aber differenziert unterrichtet werden können. Laut Schulunterrichtsgesetz  § 25 Abs. 3 sind die  SchülerInnen der 1. und 2. Schulstufe berechtigt, in die nächsthöhere Schulstufe aufzusteigen, es gibt also einen 2- bis 3-jährigen Beurteilungszeitraum.  Hinzu kommt, dass lt.  §  17 Abs. 5 ein Wechsel zwischen diesen Schulstufen möglich ist. Innerhalb der Vorschulstufe und der ersten drei Schulstufen der Volksschule und der Sonderschule sind die Schüler berechtigt, während des Unterrichtsjahres in die nächsthöhere oder nächstniedrigere Schulstufe zu wechseln, wenn dadurch der Lernsituation des Schülers eher entsprochen wird und eine Unter- oder Überforderung in körperlicher oder geistiger Hinsicht nicht zu befürchten ist.“

Im Klartext bedeutet das, dass die SchülerInnen für das Erreichen der Lernziele der 2. Schulstufe insgesamt entweder 2 Jahre (ohne Besuch der Vorschulstufe) oder 3 Jahre (inklusive Besuch der Vorschulstufe haben) Zeit haben und dass ein Wechsel zwischen diesen Schulstufen möglich ist, wenn dies aus pädagogischen Gründen sinnvoll erscheint.  Dass ein Wechsel innerhalb des gemeinsamen Klassenverbands leichter möglich ist, kann wohl angenommen werden, aber grundsätzlich gelten die Bestimmungen für beide Organisationsformen der Volksschule im Schuleingangsbereich.  Ausdrücklich sei festgehalten, dass derartige flexible Regelungen keinesfalls leistungsfeindlich sind, ganz im Gegenteil, sie ermöglichen das, woran es in vielen Fällen fehlt, nämlich an einem individuellen Entwicklungsprofile für die einzelnen SchülerInnen, an Hand dessen ein Förderkonzept ausgearbeitet werden kann. Um die immer wieder auch bei den PISA-Tests festgestellten Lerndefizite in den grundlegen Kulturtechniken schrittweise beheben zu können, sollten die Schulen derartige Förderkonzepte erstellen, um jene Rückstände aufarbeiten zu können, die bei der Schülereinschreibung bzw. im Kindergarten offenkundig wurden.  Das Rezept für künftige bessere Lernergebnisse  ist also nicht die frühzeitige punktuelle Testung, sondern die Entwicklung von Unterrichts- und Förderkonzepten, die die festgestellten Defizite berücksichtigen und an deren Behebung konsequent in einem 2-  oder 3-jährigen Lehrgang gearbeitet werden kann.

Diese Überlegungen sind keineswegs neu, vielmehr liegen dazu die  Ergebnisse aus 10 Jahren Schulversuchen zum Schuleingangsbereich vor. Und eigentlich bekennt sich ja auch die Bundesregierung zu derartigen Konzepten, wenn es im aktuellen Regierungsprogramm heißt: „Die Bundesregierung hat eine positive Sicht auf die Konzepte der flexiblen Schuleingangsphase sowie der Mehrstufenklassen und unterstützt die Umsetzung im Rahmen der Schulautonomie.“  Alles klar, sollte man meinen!

K.S.