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Helmut Seel / Das Problem der Leistungsbeurteilung in der Sekundarstufe I des österreichischen Schulsystems

von Helmut Seel
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Die Leistungsbeurteilung erfolgt in den österreichischen Schulen durch eine fünfstufige Notenskala (SchUG § 18). Bezugssystem ist der jeweilige Lehrplan der Schule. Im Bereich der Sekundarstufe I ist das System verwirrend. Die heute gegebene Sachlage ist ohne Berücksichtigung ihrer Entwicklung kaum verständlich.

Ab 1962 wurden in der Sekundarstufe I drei Züge geführt: die Unterstufe der AHS, der I. Klassenzug der Hauptschule und der II. Klassenzug der Hauptschule. Der Leistungsbeurteilung mit der fünfstufigen Notenskala lagen unterschiedliche Lehrpläne, wenngleich es Überschneidungsbereiche gab. So galt des Zeugnis des I. Klassenzugs als gleichwertig zur AHS, wenn es einen „guten Gesamterfolg" aufwies: In Deutsche, Englisch und Mathematik mindestens die Note „Gut (2)" und keine andere Beurteilung schlechter als „befriedigend (3)". Der Lehrplan des II. Klassenzugs der Hauptschule stellte eine Reduktion der Anforderungen gegenüber dem I. Klassenzug dar, der verpflichtende Fremdsprachenunterricht fehlte.

1971 wurde für die Schulversuche mit der Gesamtschule (4.SchOG-Novelle), in welchen das starre Klassenzugssystem („Streaming") durch eine flexible und fachbezogene Differenzierung („Setting") ersetzt wurde, für den Gesamtbereich der Schulleistungen eine Beurteilungen auf drei Leistungsniveaus („Leistungsgruppen") in den Fächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprache vorgesehen. Dabei wurde jeweils die fünfstufige Notenskala angewandt, wobei die beste bzw. schlechteste Beurteilung jeweils die Versetzung in die nächsthöhere bzw. nächstniedrigere Leistungsebene („Leistungsgruppe") zur Folge hatte.

1983 wurde das Differenzierungssystem mit Leistungsebenen („Leistungsgruppen") in der Hauptschule eingeführt, die Klassenzüge wurden abgeschafft. Eine allgemeine Mittelschule (Gesamtschule) wurde nicht eingerichtet, die Unterstufe der AHS blieb bekanntlich erhalten. Die Hauptschule und die Unterstufe der AHS erhielten jedoch wortidente Lehrpläne. Für die Hautschule wurde das System der Leistungsbeurteilung aus den Gesamtschulversuchen als gesetzliche Reglung übernommen. Der „gute Gesamterfolg" als Anerkennung der Gleichwertigkeit der Leistungen in der Hauptschule und in der AHS und damit der Berechtigung zum Aufsteigen in die nächsthöhere Klasse der allgemeinbildenden höheren Schulen bzw. zum Eintritt in die berufsbildenden höheren Schulen wurde dem neuen Beurteilungssystem in der Hauptschule angepasst: positive Beurteilung auf der I. Leistungsebene oder mindestens die Note „Gut (2)" auf der mittleren Leistungsebene in Deutsch, in der Fremdsprache und in Mathematik und in allen übrigen Fächer mindestens die Note „Befriedigend (3)".

Die gesetzlichen Bestimmungen sind jedoch nicht ganz klar. So wird etwa in § 15 SchOG festgelegt, dass „in der Regel drei, mindestens jedoch zwei Leistungsgruppen zu führen sind". Bezüglich der mit der Beuteilung verbundenen Berechtigungen wird im SchOG (§§ 22, 23, 25, 29) dementsprechend nur von der „höheren" bzw. „niedrigsten Leistungsgruppe die Rede. Im § 40 des SchUG, der die oben genannten Übertrittsberechtigungen von der Hauptschule in die höhere Schule bestimmt, ist hingegen von der Note „Gut" in der „mittleren Leistungsgruppe" die Rede.

Österreichische (vgl. etwa Eder/Grogger/Mayr: Sekundarstufe I, Innsbruck 2001) und internationale Leistungsvergleichsuntersuchungen (z. B. PISA 2003) weisen auf unterschiedliche schulspezifische Interpretationen der den Noten entsprechenden Schulleistungen hin. Überlappungen reichen von der AHS bis zur dritten (niedrigsten) Leistungsebene („Leistungsgruppe") der Hauptschule.

Das System der Leistungsgruppen zur Differenzierung im Hinblick auf die Streuung der Leistungsbefähigungen der Schüler in der Hauptschule wurde in den 90er Jahren zunehmend in Frage gestellt. Zahlreiche Schulversuche zur Entwicklung alternativer Formen der Differenzierung und Individualisierung des Unterrichts wurde auf der Grundlage des § 131 b: Schulversuche zur Differenzierung an Hauptschulen" des SchOG eingerichtet. Als „Mittelschule" wurden Modelle bezeichnet, die an Stelle der Differenzierung durch Leistungsgruppen ein Zweilehrersystem in den leistungsheterogen zusammengesetzten Klassen einführten. Schulintern wurde auch eine einheitliche Leistungsbeurteilung entwickelt. Beim Wechsel in das Regelschulsystem und beim Abschluss der 4. Klasse (8. Schulstufe) musste jedoch das Zeugnis die Beurteilung nach den drei Leistungsebenen („Leistungsgruppen") aufweisen. Diesen Schulversuchen wurde im Übrigen in der Novellierung des Schulorganisationsgesetzes im Jahr 2006 durch die Unterrichtsministerin Gehrer vielfach unbemerkt die rechtliche Grundlage entzogen, der § 131 b des Gesetzes wurde ersatzlos gestrichen (vgl. § 131 Abs.18 Z 3).

Die Bemühungen der Unterrichtsministerin Dr. Schmied um eine Entwicklung einer gemeinsamen Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen sind bedauerlicher Weise im Schulversuchsparagraphen (§ 7 a) des Schulorganisationsgesetzes gelandet. Auch diese Schulversuche, die von der Leistungsdifferenzierung durch Leistungsgruppen weitgehend absehen wollen, sind jedoch im Gestrüpp der Regelungen der Leistungsbeurteilung im Bereich der Sekundarstufe I gefangen. Beim Verlassen des Schulversuchs sind die Schüler und Schülerinnen in das Schema der drei Leistungsniveaus („Leistungsgruppen") einzuzwängen. Diese Erfahrung sollte ein dringender Anlass sein, das Beurteilungssystem der Sekundarstufe I zu erneuern. Bei wortidenten Lehrplänen ist eine unterschiedliche Anwendung der fünfstufigen Notenskala nicht mehr gerechtfertigt. Von der von der Unterrichtsministerin eingesetzten Expertenkommission für die Schulversuche im Mittelstufenbereich sollte ein neues System der Beurteilung der Schülerleistungen für diesen Bereich des Schulsystems entwickelt werden. Der Kreativität sollten dabei keine Grenzen gesetzt sein, zahlreiche unterschiedliche Vorschläge aus dem Bereich der Erziehungswissenschaft (direkte Leistungsvorlage, lernzielorientierte Beurteilung, Leistungsbeschreibung/verbale Beurteilung) liegen vor.