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Rupert Vierlinger / Das pädagogische Rad neu erfinden?
Schulversuche zur Gesamtschule - ein Mittel zur Verhinderung ihrer Einführung?

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Es stünde einem Pädagogen schlecht an, prinzipiell gegen Schulversuche zu votieren. Sie sollen unternommen werden, wenn man über die Konsequenzen einer geplanten Maßnahme nicht Bescheid weiß. Die Erfahrung in Österreich aber zeigt, dass Schulversuche zum Teil politisch instrumentiert, d. h. von politischen Gruppierungen dazu benützt werden, um nicht genehme Entwicklungen zu verhindern. An den Schulversuchen rund um die Gesamtschule lässt sich dies deutlich machen.

1) Das hat schon für die „Zähmung" der echten Gesamtschule in der zweiten Schulreform des zwanzigsten Jahrhunderts (Siebzigerjahre) gegolten.
In der ersten, der Reform vor der Zeit des Faschismus, ist von den „geheimen Nobelpreisträgern der Pädagogik" die gemeinsame Schule bis zum Ende der Pflichtschulzeit gefordert worden - wie übrigens schon 1848. Dewey, Montessori, Parkhurst, Steiner, Geheeb, Freinet, Karsen, Reichwein und viele Andere zählen zu den Pionieren dieser Schule und haben sie in zahlreichen Varianten höchst erfolgreich erprobt. Die offizielle Schulpolitik im deutsch sprechenden Mitteleuropa hat die zukunftsweisenden Entwürfe verschwiegen bzw. als Störenfriede ausgegrenzt. Sie hat dies noch mit obrigkeitlicher Machtbefugnis bewerkstelligt und musste sie, um sie klein zu halten, nicht mit Schulversuchen traktieren.
Der schon genannte Reformschub im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts war zu stark, um boykottiert zu werden. Der Name „Gesamtschule" wurde daher in das Reformprogramm der Länder mit gegliedertem Schulsystem (D, A) aufgenommen. Aber welche Gesamtschule war gemeint? Die falsche, die mit den Leistungsgruppen, oder die echte? Die echte Gesamtschule begnügt sich nicht mit der Öffnung einer gemeinsamen Schultüre für alle 10 bis 14/15 Jährigen. Sie fordert, dass auf die Verschiedenartigkeit der Kinder mit individualisierendem Unterricht geantwortet wird und nicht mit der Sortierung der Kinder. Damit aber verletzt sie das Grundaxiom konservativer Schulpolitik: die Selektion nach Leistung!
Hätten sich die Protagonisten der Gesamtschul - Idee auf ihre geistigen Väter (und Mütter!) besonnen, wäre der Konflikt im Raum gestanden. Paul Oestreich, der Gründer und Vorsitzende des „Bundes Entschiedener Schulreformer", hatte den Verfechtern von Leistungsgruppen bereits 1921 vorgehalten: „So geht es nicht!" - War es nun Unglaube oder Harmoniebedürfnis? Die Nachfahren des konsequenten Reformers begnügten sich mit der Akzeptanz des Begriffes Gesamtschule im Programm der Schulversuche, verbrüderten sich mit den Tempelrittern der Selektion und verrieten gleichzeitig die Idee der echten Gesamtschule. - Es scheint nun aber doch ein schlechtes Gewissen gegeben zu haben, sonst hätte man nicht am Namen dieses Schultyps herummanipuliert. Das Wort „gesamt" genügt doch, um die Assoziation mit „Integration aller Schüler der Sekundarstufe I" herzustellen. Wozu dann das Attribut „integriert" („Integrierte Gesamtschule" = IGS)? „He protects too much!", pflegen die Engländer über jemanden zu sagen, der einen zweifelhaften Sachverhalt mit vielen Worten zu verschleiern versucht.
Um in der Lehrerschaft Zustimmung zu gewinnen, hat man für den Unterricht in den Leistungsgruppen, der zweifellos bequemer ist als der vor heterogenen Schülern, 40 % mehr Gehalt bezahlt. Der Leser möge eine erste persönliche Reminiszenz verzeihen: Als ich 1982 nach der Novellierung des Schulorganisationsgesetzes meine Kritik erneut zum Ausdruck gebracht habe, hat mir der damalige Schulsprecher der ÖVP entgegen gehalten: „Wir haben doch 100 Besuchslehrer befragt, und alle haben den Leistungsgruppen zugestimmt." „Wenn man Schmiergelder bezahlt", habe ich geantwortet, soll man nicht erwarten, die Wahrheit zu erfahren."
Das dicke Ende kam spätestens mit PISA: Die deutschen Pseudo-Gesamtschulen stürzten ab, die verwandten österreichischen Hauptschulen auch. Darüber hinaus hat bekanntlich das gesamte gegliederte Schulsystem in keinem der beiden Rückzugsländer reüssieren können.
Finnland hat sich 1982 vom IGS - Modell der Deutschen ab- und der echten Gesamtschule zugewandt. Mit dem Ja zur Heterogenität und dem Unterricht im Stile der „inneren Differenzierung" haben die Finnen im Verein mit den vergleichbaren Schulsystemen von Skandinavien bis Kanada und Korea „den Vogel abgeschossen"!
Im selben Jahr 1982 hat das österreichische Parlament der Hauptschule das Modell der IGS übergestülpt und die Versuche eingestellt. Sie haben das politisch gewünschte Ergebnis gebracht: Keine Integration, sondern das Gegenteil: eine potenzierte Sortierungsstrategie: Drei übereinander gelagerte Leistungsgruppen in der Hauptschule, über ihnen als vierte Riege die Unterstufe des Gymnasiums, die wunschgemäß unangetastet geblieben ist. „Viel Lärm (und Geld) um Nichts!" Die Homogenisierung der Schüler ist zementiert worden; der Ruf nach Heterogenität und individualisierendem Unterricht ist ungehört verhallt. Wer entschuldigt sich für den Schaden, den die Schüler und nicht zuletzt ihre Eltern erlitten haben, indem ihnen so viele weitere Jahre die humanere Schule vorenthalten worden ist?
Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die Versuche mit dem Gesamtschul-Bastard für die echte Gesamtschule einen schweren Rückschlag gebracht haben. Es ist ja nicht so, dass vergessen worden wäre, ihr Modell in die Diskussion einzubringen. Auch ein Ansuchen ist vorgelegt worden. Aber das Bekenntnis zur inneren Differenzierung hatte keine Chance, genehmigt zu werden. Eine zweite persönliche Reminiszenz: Über den abenteuerlichen Umweg, den Sektionschef Dr. März gewählt hat, um meinen Versuch mit der Übungs-Gesamtschule der Pädagogischen Akademie der Diözese Linz der Illegalität zu entreißen, ließe sich eine interessante Geschichte erzählen.
Dass die Schulversuche zur „Integrierten Gesamtschule" ein pädagogisch höchst mittelmäßiges Gebilde produziert haben ist mittlerweile evident geworden. Relativ bald haben Lehrerkollegien damit begonnen, sich von den Leistungsgruppen zu verabschieden, obwohl sie ihnen die Arbeit erleichtert hatten. Respekt! Um des pädagogischen Vorteils der Schüler willen nehmen Lehrer eine anspruchsvollere Arbeit auf sich!

2) 2007 hat die Kanzlerpartei der großen Koalition eine neue Ministerin bestellt, die das Wesen der echten Gesamtschule versteht und sie unter dem Begriff „Neue Mittelschule" einführen will. Der Koalitionspartner, im besonderen sein Klubobmann und dessen engste Parteigänger, können ihr Feindbild nicht ablegen, auf das sie sich mit Verunglimpfungen wie „Einheizschule" (sic!), das „Allerschlimmste" (Gehrer) jahrelang eingeschossen haben. Um dem massiven Protest gegen die Einführung der Neuen Mittelschule ein ehrenwertes Mäntelchen umzuhängen, müssen wieder Schulversuche herhalten. Sie werden als Bollwerk aufgebaut, das imstande sein könnte, das Anliegen von vornherein zunichte zu machen: Sehr viel mehr Eltern müssen zustimmen als betroffen sind; die Langform eines Gymnasiums muss im Einzugsgebiet der Schule stehen etc. -
Viele Eltern befragen zu wollen klingt gut, ist aber scheinheilig: Hat man sie bei der Einführung der „Neuen Hauptschule" gefragt, ob sie mit einer Organisationsform einverstanden sind, die das Recht hat, ihr Kind beispielsweise in die dritte Leistungsgruppe abzuschieben? Weil dies keinem Kind gut tut und dem Lernklima schon gar nicht, hätte das Recht auf Mitentscheidung den Eltern durchaus zugestanden werden sollen! Bei der Gesamtschule aber wird befragt, obwohl sie keinem einen pädagogischen Nachteil bringt, den Schwächeren und dem Lernklima aber erwiesenermaßen große Vorteile! - Freilich, derjenige, der sich mit seinem Kind gerne von den Anderen absetzen und nach der Manier des biblischen Pharisäers sagen möchte: „Herr, ich danke dir, dass wir nicht sind wie die da hinten...", der empfindet die Gesamtschule als Nachteil. Dass er sich damit auf kein pädagogisches Argument berufen kann und schon gar nicht auf ein demokratisches, steht auf einem anderen Blatt. - Wenn man in das Einzugsgebiet der Gesamtschule die Langform eines Gymnasiums setzt, macht man ihr viele Zugpferde abspenstig und lässt sie gewissermaßen im Regen stehen. Eine Gesamtschule kann und darf auf die leistungsmäßigen Vorbilder nicht verzichten. Sie lebt geradezu von der Normalverteilung der Begabungen.-
Noch einmal sei es gesagt: Schulversuche sind sinnvoll, wenn Zweifel ausgeräumt werden sollen wie etwa, ob denn die Vorteile der produktiven Einseitigkeit eines Kursunterrichts in der Sekundarstufe II den Ausfall in der sogenannten Allgemeinbildung aufwiegen können? Oder wenn Hypothesen überprüft werden sollen wie die, ob der Vorsprung der PISA - Sieger vielleicht nicht nur auf die echte Gesamtschule zurückzuführen ist, sondern auch auf das Delegieren von wesentlichen Entscheidungsbefugnissen an die Basis? (Eine gewählte Schulregierung nimmt in Eigenverantwortung die Lehrer auf und gibt der Schule das Gepräge!) Oder ist er gar auf die Tatsache zurückzuführen, dass in den Siegerländern weithin auf die Ziffernnoten verzichtet wird? Das und manches Andere wären Themen für eine nationale Anstrengung im Dienste von Schulversuchen. Aber die in jahrelanger Praxis gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse hoch entwickelter und unserem Kulturkreis zugehöriger Staaten nicht zu akzeptieren und wieder nach Schulversuchen zu schreien, hat nicht nur mit politischer Widersetzlichkeit zu tun, sondern schürt auch den Verdacht auf Provinzialismus.
Bei solch einer Haltung drängen sich Fragen auf wie:
• Haben denn die österreichischen Kinder eine andere Gen-Ausstattung, sodass sie nach anderen - erst zu erprobenden - Lerngesetzen lernen müssten?
• Haben denn die obgenannten Länder nicht bereits vor Jahren erfahren, dass die Beibehaltung der naturgegebenen Heterogenität in den Schulklassen bis zum Ende der Pflichtschulzeit die Besten nicht benachteiligt, sondern dass sich bei entsprechender methodisch - didaktischer Kreativität auch für die zukünftigen Eliten besonders positive Effekte zeigen?
• Ist es denn für die optimale Lernmotivation der österreichischen Schüler - im Gegensatz zu denen anderer Länder - vorteilhaft, unter dem Druck der permanent drohenden Abstufung und Abschiebung zu stehen?
• Stützt bei ihnen vielleicht gar das vom Auslesesystem erzeugte Klima der Rivalität die Entwicklung wünschenswerter Charaktereigenschaften?
• Ist das Erlebnis des Unerwünscht - Seins in den unteren Rängen der österreichischen Schule ausnahmsweise nicht auch die „schwerste Krankheit", die nach Mutter Teresa einem Menschen zugefügt werden kann?
• Fühlen österreichische Schüler das Wegdriften der Hervorragenden denn wirklich als Entlastung, während sie dies in Bayern als Verlust beklagen?
• Bestätigt nicht die Lernbiographie eines jeden von uns, welch faszinierende Kraft von den Vorbildern ausgeht?
• Ist die Katastrophe nicht schon groß genug, welche die Schwachen nun bereits jahrelang erleiden, indem sie keinen mehr neben sich haben, der hörenswerte Geschichten schreibt, elegante Lösungen mathematischer Probleme findet und in die englischsprachige Diskussion interessante Formulierungen einbringt?
• Braucht denn jemand einen Versuch, um zu erkennen, dass der sündteure und ungerechte Nachhilfe-Boom dem in gegliederten Systemen üblichen „Hobeln nach der Schnur" (Herbart) zuzuschreiben ist und nicht dem individualisierenden Unterricht in echten Gesamtschulen?
• Zweifelt denn jemand, dass sich der „geborene Lehrer" in einem System wohler fühlt, das ihm die Rolle des Helfers und Trainers zudenkt, als in einem, das ihn immer wieder die Robe des Richters überziehen und damit den pädagogischen Bezug zu seinen Schülern verspielen lässt?

Frau Minister Schmied hat sich eine bemerkenswert kompetente Kommission an ihre Seite gesetzt und wird von ihr gut beraten. Der politische Gegner zwinge sie daher nicht zu unnötigen Versuchen, sondern gestatte ihr, das Geld in die Maßnahmen der Installierung zu stecken - nicht zuletzt auch in wohlverdiente Zulagen für die beteiligten Lehrer. Die bei einem Teil der Schulpartner vorhandene Skepsis gegenüber der Neuen Mittelschule wird nach wenigen Semestern verschwunden sein!

Zur Person: Univ. Prof. emer. Dr. Rupert Vierlinger war nach 15 Lehrerjahren (VS, HS, Übungsschule und ORG Gründungsdirektor der Päd. Akademie der Diözese Linz und anschließend erster Ordinarius für Schulpädagogik an der neu gegründeten Universität Passau.